matthias franke | 08.05.1995

DER VERLIERER

Donnerstag

Trotz tagelanger Bemühungen um eine bessere Innenarchitektur herrschte in Werners Studentenbude noch immer die Atmosphäre mancher Waschküche. Und dies lag nicht nur an seinen beschränkten finanziellen Möglichkeiten, sondern auch an einer gewissen Ungeschicklichkeit beim praktischen Umsetzen von ästhetischen Vorstellungen.

Jedenfalls hatte er ein recht unangenehmes Gefühl, als es an seiner Tür klopfte, während er gerade noch versuchte, eines der neuen Regale zu montieren. Denn wenn sein Zimmer schon nicht zum Wohnen geeignet war, dann erstrecht nicht zum Empfang von Besuchern.

Der Mann, der nun in Werners Türrahmen stand, war ihm auf Anhieb unsympathisch. Werner vermutete, daß es wohl an jener unpassenden Kombination aus rotem Vollbart und Krawatte liegen müsse.

Sein erster Eindruck bestätigte sich jedenfalls überraschend eindeutig, als ihn der Bärtige ohne jede Umschweife in knappen Worten über den Tod seines Onkels in Kenntnis setzte.

Zunächst war Werner tatsächlich nur über die ungewohnte Taktlosigkeit des Bärtigen entsetzt. Doch schnell wurde ihm die mögliche Tragweite eines solchen Geschehnisses bewußt:

Seine freudige Erregung unterdrückend versuchte er, sich die richtige Mimik des Schocks anzueignen, wie er sie aus zahlreichen Fernsehkrimis kannte. Und gerade durch die Unbeholfenheit, die Werner hierbei an den Tag legte, wirkte seine gespielte Trauer sehr realistisch.

Erst als sich der Bärtige als Beamter bei der Kripo vorstellte, war das Entsetzten echt. Werners Brille rutschte langsam seinen feuchten Nasenrücken herunter und es sammelte sich unangenehm viel Speichel in seinem Mund, so daß er ständig schlucken mußte. Was sollte die Polizei mit dem Tod seines Onkels zu tun haben? Werner hoffte, wieder etwas gelassener zu wirken, während er diese Frage stellte.

Sofort sprudelte aus dem Bärtigen ein rhetorisch perfekter Vortrag über seine bisherige Ermittlungsarbeit heraus und Werner war fest davon überzeugt, daß selbst Sherlock Holms nicht in allen Punkten hätte folgen können.

Werner rückte seine Brille wieder zurecht. Soweit er verstand, war sein Onkel bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Bei einer routinemäßigen Untersuchen des Wagens stieß man allerdings auf Hinweise, die einen Sabotageakt vermuten ließen. Werners Onkel wäre demnach ermordet worden.

Nach seinem Bericht hatte jedoch auch der Bärtige einige Fragen "im Rahmen eines fairen Informationsaustausches" - wie er sich ausdrückte.

Aber natürlich wußte Werner nichts über Automechanik und Bremsflüssigkeit. Das war nicht einmal gelogen; schwieriger war es da schon, sich völlig überrascht davon zu zeigen, eventuell geerbt zu haben. Schließlich wollte Werner erst garnicht den Anschein erwecken, auch nur das profanste Mordmotiv zu haben.

Das Gefühl in Werners Magen wurde allerdings immer flauer, je länger ihn der Bärtige mit Fragen bombardierte. Schließlich hatte der Onkel keine wirklichen Feinde, die ihn die zu einem Mord fähig wären, ein Vormittag allein im Bett war kein gutes Alibi und der Rausschmiß aus dem Haus des Onkels sprach auch nicht gerade dafür, von Werners Unschuld auszugehen. Ihm wurde schlagartig klar, daß er zwangsläufig unter Mordverdacht stehen mußte.

Werner wurde zu seiner Beruhigung jedoch nicht gleich festgenommen, wie er es sich inzwischen schon in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte. Bevor der Bärtige ging, bat er lediglich darum, sich in den nächsten Wochen zur Verfügung zu halten und die Stadt möglichst nicht zu verlassen.

Werner war nun erstenmal eine Weile damit beschäftigt, sich das eben Erlebte begreiflich zu machen. Er setzte einen Tee zur Beruhigung auf und hockte sich zusammen mit seiner Tasse auf das Bett.

Werner sah ein, daß der Tod des Onkels noch kurz vor seiner Enterbung ganz automatisch einen Verdacht auf ihn lenken müsse. Warum war er nie selbst auf die Idee gekommen den Wagen des Alten zu sabotieren? Leider war Werner mit seinen Mordplänen nie über ein Stadium herausgekommen, in dem er voller guter Vorsätze vor dem nahen Waffengeschäft stand und sich das entsetzte, überraschte Gesicht des Onkels kurz vor seinem Tode ausmalte. Der Mörder schien dagegen nicht ganz so einfallslos zu sein.

Jedenfalls war Werner ein gutes Stück Arbeit abgenommen worden.

Trotzdem fühlte er sich ein wenig geschmeichelt und war stolz bei dem Gedanken, man traue ihm einen Mord zu.

Doch schon nach kurzer Zeit war ihm dieser Gedanke unangenehm und sein Nasenrücken begann wieder feucht zu werden.

Im Zimmer standen noch diverse Umzugskartons, welche hauptsächlich die kleine Sammlung philosophischer Werke enthielten. Für Werner schuf das Lesen immer einen angenehmen psychischen Ausgleich in Stressituationen.

Aber mit dem üblichen wahllosen Griff in einen der Kartons fand er diesmal alles andere als entspannende Lektüre. Er hielt ein Handbuch "für den engagierten Autobastler" in seinen Händen. Vom Einband grinste ihn in gekünstelter Pose ein gutaussehender Herr in Blaumann an und streckte ihm einen Schraubenschlüssel entgegen. Es war Werner völlig schleierhaft, wie er in den Besitz solchen Schunds gekommen war.

Aus Neugierde, aber noch ein wenig gelangweilt begann Werner zu blättern: Im Kapitel zur Scheibenbremse fand er Markierungen mit Textmarker, auf Seite 220 gab es mehrere Randbemerkungen mit Bleistift in -und bei dieser Erkenntnis stockte Werners Atem- seiner eigenen, ureigenen Schrift. Mit erstaunlicher Wucht schleuderte er das Buch in Richtung des Mülleimers und mit einem schnellen Griff beförderte er sämtliche Textmarker und Bleistifte vom Schreibtisch. Werners Herz schien vor Aufregung kleine Sprünge bis in seinen Hals zu vollführen. Werner begann an seinem sonst doch klaren Verstand zu zweifeln. Die Angst vor dem Bärtigen löste vermutlich Wahrnehmungsveränderungen aus.

Werner versuchte tiefer durchzuatmen als sonst, rückte die Brille zurecht und begann mit einer hektischen Untersuchung seiner restlichen Habe auf ähnliche Eigentümlichkeiten.

Tatsächlich fanden sich hierbei eine Broschüre der Anlageberatung seiner Bank und Bücher über Betriebswirtschaft - Dinge, die Werner vorher noch nie gesehen hatte.

Ihm war klar, daß es ungleich schwerer gewesen wäre, den Bärtigen von seiner Ahnungslosigkeit im Kfz-Bereich und von seinem Desinteresse bezüglich Finanzen zu überzeugen, wenn er jene Bücher gesehen hätte.

Werner überlegte, wie er sich seiner unangenehmen Neuentdeckungen entledigen könne.

Kurzerhand rollte er den alten Teppich weg und zündete das erste Buch an. Waren die Seiten etwas aufgefächert, brannten die Bücher erstaunlich gut. Werner ärgerte sich nur über den schwarzen Fleck, der trotz seiner Reinigungsbemühungen auf dem nackten Beton des Bodens zurückblieb.

Schließlich legte er jedoch den Teppich wieder an seinen angestammten Platz und trank den Rest seines inzwischen kalten Tees.

Wie waren die Bücher in seine Kartons gekommen?

Seit einer Woche war Werner ständig in seinem Zimmer gewesen. Es gab somit keine Möglichkeit, die Bücher noch bei ihm zu plazieren, nachdem er aus der Villa des Onkels ausziehen mußte. Die Person, die ein Interesse hatte, ihn verdächtig zu machen, hatte demnach schon vorher vom Tod des Onkels gewußt, ihn also vermutlich auch eigenhändig herbeigeführt.

Bis hierher sah er also klar.

Die Wirkung des Tees nahm rapide ab, die der offenen Fragen verstärkte sich:

Aber wer außer Werner hatte ein Motiv? Leider wollte ihm hierzu einfach nichts einfallen.

Werner bemerkte, daß solche Überlegungen im Moment nicht weiterführen würden und so telefonierte er nach einer Pizza. Dann schlürfte er zum Kühlschrank, um feierlich ein Gläschen Sekt zu trinken. Schließlich mußte Werner ja trotz der neuen Probleme über den Lauf der Dinge sehr zufrieden sein.

Nachdem der Stapel von leeren Pizzakartons weiter gewachsen war und sich Werners Magen wieder zufriedener anfühlte, reute es ihn sogar schon fast, die Broschüre seiner Bank mitverbrannt zu haben. Er schaltete den Fernseher ein und schaute im Videotext nach den Aktienkursen. Auch wenn ihm die wirren Zahlen nicht allzu viel sagten, freute er sich wie ein kleines Kind, hier investieren zu dürfen, sobald er die Firma des Onkels zu Geld gemacht haben würde. Sein Leben könnte in Zukunft nur noch aus Studieren und Lesen bestehen, ohne daß irgendwelche finanzielle Probleme dadurch auftreten würden.

Freitag

Am nächsten morgen stellte Werner zuerst seinen Mülleimer vor die Tür. Er war wahnsinnig glücklich, daß ihm seine neue Zimmernachbarin den Gang zur Tonne im Hof abnahm. Werner verabscheute körperliche Arbeit und fühlte sich gerade nach dem Wechsel in eine neue Umgebung am wohlsten auf seinem Zimmer. Daher ging er auch auf die rhetorischen Hilfsangebote, die üblicherweise allen Neuankömmlingen gemacht wurden, gerne ein. Er wußte, daß seine Bitte der Kommilitonin unverschämt oder zumindest befremdlich erscheinen müsse und daß sie einen solchen Dienst bald quittieren würde, aber dies erschien ihm jetzt eher zweitrangig.

Werner überlegte, ob er sich nach dem Tod des Onkels nicht mit seiner Tante in Verbindung setzen müsse. Er erinnerte sich an die Unfähigkeit der Tante, Parties zu organisieren und fühlte Mitleid, obwohl er sich schon im voraus bei dem Gedanken an ein mißlungenes Büfett nach der Trauerfeier amüsierte.

Aber nicht nur Mitleid ließ ihn jetzt zum Telefon greifen. Der bürokratische Aufwand, der mit einer Beerdigung verbunden war, war sicher enorm. Wenn Werner hier helfen könnte, war das ein guter Vorwand dafür, wieder verstärkt in Haus und Firma des Onkels aufzutauchen. Immerhin würde beides bald ihm gehören.

Als Werner die Stimme seiner Tante hörte, rutschte ihm versehentlich ein "herzliches Beileid" heraus; zwischen trauernden Angehörigen war das ja eigentlich unangebracht. Die Tante sah jedoch über die kleine Peinlichkeit hinweg, fragte nach Werners Gesundheit und meinte auf seine entsprechende Frage, daß sie seine Hilfe durchaus brauchen könne. Werner war glücklich, diese Hürde so einfach genommen zu haben, und rief sich sofort ein Taxi.

Werner betrachtete sein rundes rotes Gesicht im Spiegel und begann sich über dem Waschbecken in der Ecke seines kleinen Zimmers sorgfältigst zu rasieren, was eigentlich garnicht nötig gewesen wäre. Auch mit der Auswahl seiner Kleidung verbrachte er heute mehr Zeit als sonst.

Die Tante sollte sich nicht wieder über seine Geschmacklosigkeit diesbezüglich auslassen. Er haßte es von der alten Dame immer wieder wegen solcher Oberflächlichkeiten reglementiert zu werden und paßte sich deshalb von sich aus den Vorlieben der Tante an.

Natürlich kam das Taxi viel zu früh und Werner mußte auf das Tragen der Krawatte verzichten. Nichts war ihm peinlicher, als bei seinen ungeschickten Versuchen akzeptable Knoten zu fabrizieren beobachtet werden und sei es nur durch einen Taxifahrer.

Über der Stadt lag erstmals ein zarter Hauch von Frühling, der Schnee der letzten Wochen war fast gänzlich verschwunden und die niedrig über dem Horizont stehende Sonne machte herrlich lange Schatten. Dieses Wetter besserte Werners Laune mehr und mehr; zufrieden schaute er aus dem Fenster des Wagens und langsam keimte in ihm jener erfolgsgewisse Tatendrang, der wirklich nur in der ersten Frühlingszeit aufkommen konnte.

Selbst die Villa schien durch das seltsame Licht an diesem Tag ihre unheimliche Aura verloren zu haben und Werner konnte erstmals seinen kleinen Fußmarsch auf dem Kiesweg bis zum Hauseingang richtig genießen.

Werner wurde von den drei Hausangestellten in Empfang genommen, amüsierte sich köstlich darüber, daß lediglich das Dienstmädchen mit dem Kindergesicht schwarze Trauerkleidung angelegt hatte, der verschrobene Gärtner und die Köchin dagegen noch nicht einmal ihr herzliches Beileid ausdrückten. Die beiden schienen begriffen zu haben, daß sich Werners Trauer in äußerst engen Grenzen hielt und lächelten ihm lediglich in heimlicher Zustimmung zu.

So begann Werner direkt nach seiner Ankunft in der Villa die Einladungen an den kleinen Rest der Familie und alle Bekannten vorzubereiten.

Der inzwischen aufgetauchten Tante fielen dabei immer wieder Personen ein, die schon längst berücksichtigt waren. Doch Werner störte das nicht; er war dagegen sogar recht froh, sie beschäftigt zu sehen, denn er haßte Gespräche über Gefühle, auch über Trauer. Dennoch war er über das kontrollierte Verhalten der Tante ein wenig erstaunt, hatte er doch mit echten emotionalen Ausbrüchen, vielleicht sogar Tränen gerechnet. Bisher war er der Meinung gewesen, seine Tante habe eine intakte Ehe geführt. Trotzdem bemerkte er nichts außergewöhnliches an ihr, nur daß sie heute vielleicht etwas weniger wie ein feudales Möbelstück wirkte, das sich perfekt in die restliche Einrichtung des Hauses einpaßte.

Während er also wieder über Innenarchitektur nachdachte, wurde ihm plötzlich klar, daß vielleicht auch seine Tante ein Interesse am Ableben des Onkels gehabt haben könnte.

Werner begann sie in einem anderen Licht zu betrachten. Einerseits machte ihm dieser Verdacht die Tante auf eigenartige Weise sympathisch; er konnte sich gewissermaßen als ein Komplize, als Mitverschworener fühlen. Andererseits empfand er es als lieblos und extrem unfair, den Mordverdacht auf ihn lenken zu wollen. Außerdem beängstigte Werner die gewissenlose Verschlagenheit, die sie hierbei an den Tag zu legen schien. Seine Tante war also keineswegs harmlos - wie er bisher geglaubt hatte - sondern eine gefährliche alte Dame. Werner fühlte sich an die Hexe aus "Hänsel und Gretel" erinnert und dabei haßte er doch Kindheitserinnerungen.

Er hörte auf zu schreiben.

Werner rief sich ins Bewußtsein, daß ihm die alte Dame nicht nur die Bücher über Kfz-Technik zugesteckt haben mußte, sondern wahrscheinlich auch die gesamte Untersuchung des Todes seines Onkels veranlaßt hatte. Keinen Verkehrsunfall würde man routinemäßig so genau untersuchen, daß man einen Sabotageakt nachweisen konnte. Dazu wäre wahrscheinlich eine richtige Spurensicherung durch die Kripo nötig. Doch eine solche kriminalistische Untersuchung kam wohl nur durch einen konkreten Hinweis in Gang.

Werner betrachtete das faltige Gesicht der alten Dame. Wer hätte gedacht, daß sich hinter der Fassade von altmodisch geblümten Strickjäckchen eine solch gewissenlose Mörderin verbarg? Die alte Dame schien Werners haßerfüllten Blick bewußt zu ignorieren, ordnete mit einer unüblichen Bewegung, die ihre peinliche Berührtheit verriet, ihr volles weißes Haar und wollte in der gemeinsamen Arbeit fortfahren, als sei nichts geschehen.

Werner beeilte sich, die alte Dame wieder zu verlassen. Erst während er in der weitläufigen Gartenanlage umherspazierte, nahmen seine Angstgefühle vor der verschlagenen Tante langsam ab. Der Mordverdacht hatte ihn zwar schon vorher beunruhigt, bisher war er jedoch wie selbstverständlich davon ausgegangen, daß sich am Ende zwingend seine Unschuld erweisen müsse.

Die alte Dame würde aber sicher nicht davon ablassen, zu versuchen, ihm den Mord unterzuschieben, bis es ihr auch gelungen war.

Werner beschloß, die Polizei bei ihrer Suche nach dem richtigen Mörder zu unterstützen. Er fühlte sich sogar dazu verpflichtet, schließlich konnte niemand verantworten, daß ein Unschuldiger an Stelle der alten Damen im Gefängnis einsaß. Werner überlegte, auf welche Weise er den bärtigen Kripo-Beamten wohl am besten auf die richtige Spur setzen sollte.

Schließlich hatte er einen genialen Einfall und sprühte schon vor Euphorie.

Er näherte sich langsam den Garagen. Hier hatte auch der Wagen gestanden, in dem der Onkel ums Leben kam. Werner betrachtete die Regale mit den verschiedenen Schmierölen und Frostschutzmitteln. Seine letzten Zweifel wurden durch die kleine Zange, die auf dem Boden liegend zum Zugreifen geradezu aufforderte, zerstreut. Nachdem sich Werner davon überzeugt hatte, daß ihn niemand beobachtete, nahm er also eine der Dosen sowie die kleine Kneifzange und lief damit eilig zum Gartenhaus.

Zwischen Hacke und Spaten hing dort auch die "Gärtnerhose" der Tante. Schon immer hatte sich die alte Dame liebevoll um ihre Rosenzucht gekümmert. Werner dachte daran, daß sie während seiner Kindheit ganz sicher mehr Zeit mit ihren Rosen als mit ihm verbracht hatte. Somit hatte er nicht den geringsten Skrupel, als er nun genüßlich die Zange in die Hosentasche der Tante gleiten ließ und sorgfältig überall ein wenig von dem Schmieröl verteilte. Die Hose der Tante ähnelte nun tatsächlich weniger der eines Gärtners, als der eines Mechanikers.

Zufrieden trennte er hierauf noch einige Stoffransen von der Hose ab, die ohnehin schon ein kleines Loch hatte, so daß Werner nicht einmal Schere oder Messer benötigte. Gemächlich schlenderte er nun zurück zu den Garagen, drehte sich vorsichtshalber immer wieder nach etwaigen Beobachtern um und verteilte schließlich die Fransen der Hose auf dem Betonboden, wo alte Dame gelegen haben mußte, um dem Wagen ihres Gatten zu ihrer Mordwaffe zu machen.

Werner dachte daran, daß dies alles vermutlich noch lange nicht ausreichen konnte, um sich in Sicherheit wiegen zu dürfen. Trotzdem fühlte er nun wieder etwas mehr Selbstsicherheit und ging zurück ins Haus.

Später würden ihm gewiss noch mehr Möglichkeiten einfallen, der Kripo zu helfen.

In zwei Tagen sollte der Onkel von der Autopsie freigegeben sein, damit er endlich beerdigt werden könne. Werner rang sich also dazu durch, ein Beerdigungsinstitut anzurufen. Der freundliche Herr am anderen Ende der Leitung bot an, sofort vorbeizukommen, um mit seinen neuen Kunden einen Sarg auszuwählen und noch diverse Einzelheiten der Trauerfeier zu besprechen. Werner stimmte mißmutig zu und schlenderte dann in die Bibliothek, um dort in seinem geliebten Clubsessel auf den Bestattungsunternehmer zu warten.

Der Betatter schien recht guter Laune zu sein, jedenfalls schien er ein Grinsen nur schwer unterdrücken zu können, als die Tante ihm ihre Wünsche bezüglich der Trauerfeier darlegte. Die alte Dame bestand darauf, den Onkel in einem weiß lackierten Sarg beizusetzen, der von einigen Herren - womöglich noch in Frack - feierlich getragen werden sollte. Werner hatte eigentlich nicht das geringste Bedürfnis, die Leiche nochmals zu sehen, doch es wurde auch ein Defilee der Gäste vorbei am geöffneten Sarg geplant, was ja hierzulande absolut unüblich war und seiner Meinung nach schrecklich "neureich" auf die Trauergäste wirken mußte. Aber die alte Dame war von ihrer Idee nun einmal absolut nicht abzubringen und so sollte sie ebent ihren Willen bekommen.

Werner schluckte, als ihm der schwarz gekleidete Totengräber mit den schmalen Lippen einen Kostenvoranschlag in die Hand drückte, zwang sich jedoch nicht allzu geizig zu sein, eigentlich konnte er sich als Erbe des Firma ja eigentlich einige Extravaganzen leisten. Zweifellos würde er sich nun eine Menge Arbeit sparen, denn der Totengräber wollte gegen einen überteuerten Aufpreis auch noch den Partyservice für das familiäre Schlemmern nach de Friedhofsbesuch koordinieren.

Nachdem also die wichtigsten Vorbereitungen zur Beerdigung getroffen waren, schlenderte Werner kreuz und quer durch das Haus seiner langweiligen Kindheit. Langsam begann er sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß jetzt all dies ihm gehörte.

Als er dann schließlich im Arbeitszimmer des Onkels an dessen Schreibtisch saß, fühlte sich Werner vollauf zufrieden.

Mit andächtigem Genuß zog er also die erste Schublade auf. Werner stutzte. Vor ihm lagen etliche Bewerbungen um den Posten als Geschäftsführer der Gießerei.

Der Onkel hatte sich demnach aus der Geschäftsführung zurückziehen wollen.

Zunächst war Werner ein wenig empört darüber, daß er als Erbe über diesen Schritt nicht einmal informiert worden war. Aber dann wurde ihm klar, daß der Onkel seine Androhungen während des letzten heftigen Streits wohl ernst gemeint haben könnte.

Sein Puls beschleunigte kräftig. Ihm wurde schwindlig.

Niemals wäre er bereit gewesen, sein Studium der Philosophie und Geschichte dem der Betriebswirtschaft zu opfern. Außerdem stand für Werner immer außer Frage, daß er die Firma nicht weiterführen, sondern verkaufen würde, sobald er endlich der Besitzer sein sollte.

Der Onkel dagegen hatte sich stets einen Stammhalter gewünscht und in einem letzten Akt der erzieherischen Verzweiflung seinen störrischen Neffen im Studentenwohnheim einquartiert.

Werner spürte wieder seinen alt bekannten Hass auf den Alten, als er daran dachte, daß der Onkel das Zimmer sicher nur durch seine guten Kontakte zum Leiter des Studentenwerks erhalten hatte. Eigentlich gab es für Plätze in Wohnheimen lange Wartelisten von Kommilitonen, deren Eltern über weit weniger finanzielle Mittel verfügten.

Er fragte sich, ob sein Rausschmiß aus der Villa wirklich nur eine der vertrauten pädagogischen Maßnahmen gewesen war. Vielleicht hätte er noch sehr lang in seiner Studentenbude hausen müssen, wäre der Onkel nicht zum rechten Zeitpunkt gestorben.

Wäre also auch seine angedrohte Enterbung in die Tat umgesetzt worden?

Werner begann fieberhaft nach irgendwelchen Indizien hierfür zu suchen. Hektisch flitzen seine Blicke über die Regale, während die nervösen Hände irgendwelche Aktenordener befingerten. Auf diese Weise stöberte Werner natürlich völlig erfolglos.

Nachdem er schließlich sämtliche Schränke und Schubladen durchwühlt hatte, setzte er sich erschöpft.

Erst jetzt sah er das Tele-Fax von dem Notar und Anwalt für Strafsachen des Onkels mitten auf dessen Schreibtisch liegen. Werner mußte seine Augen schließen und krallt die Fingernägel in das Papier, so daß die Hiobsbotschaft Löcher bekam.

Der Alte hatte vorgestern einen Termin zur Änderung des Testaments gehabt. Werners Brille begann wieder einmal zu rutschen. Es sah also so aus, als ob er enterbt worden wäre. Er überlegte, den Notar anzurufen um sich diese schlechte Neuigkeit bestätigen zu lassen. Doch ihm fehlte wohl hierzu der nötige Mut und außerdem wurde ihm klar, daß er vor der offiziellen Testamentseröffnung keine Auskunft erhalten würde. Werner suchte nach einem Taschentuch, mit dem er seinen Schweiß abwischen könnte. Natürlich fand er keines; Werner hatte den Onkel niemals schwitzen sehen, auch wenn das sicher zu dem fleischigen, roten Gesicht gepaßt hätte.

Werner lief nun zurück zu seiner Tante und versuchte möglichst unauffällig unverfänglich die genaue Todeszeit des Onkels zu erfragen. Vielleicht war er ja schon auf der Fahrt zum Notar gegen den Brückenpfeiler gerast und konnte so das Testament doch nicht mehr ändern lassen. Die alte Dame grinste ihn aber lediglich mitleidig an und murmelte, der Onkel sei auf dem Weg zu ihr, auf dem Weg nach Hause ums Leben gekommen.

Werner hockte wieder zusammen mit der Teetasse auf seinem Bett. Nachdem ihm nun klar war, daß er doch kein Erbe sein würde, hatte er es nicht länger in der Villa des Onkels ausgehalten. Außerdem hatte ihn das wissende Grinsen der Alten extrem verunsichert. Er war es einfach nicht gewohnt, sich durchschaut zu fühlen. Tatsächlich war er auch nicht zu sehr über den finanziellen Verlust betrübt, vielmehr war es die Angst, nun von der alten Dame abhängig zu sein.

Sie mochte Werner augenscheinlich nicht besonders und würde als Alleinerbin der Firma sein Studium sicher nicht weiter finanzieren, wie es der Onkel getan hatte. Schließlich grinste die alte Dame nicht nur höhnisch; sie versuchte ihm den Mord in die Schuhe schieben. Auch wenn ihr dies nicht gelingen sollte, - und dafür wollte Werner sorgen - würde sie ihm sicher auch noch weiterhin schaden, wo sie nur konnte. Werner überlegte, ob er irgendeinen Fehler in der Vergangenheit gemacht haben könnte. Doch fiel ihm kein Grund für die plötzlichen Anfeindungen seitens der alten Dame ein. Wahrscheinlich liebte sie tatsächlich niemanden außer ihren Rosen: Sie hatte jeder einzelnen Pflanze einen berühmten Namen gegeben, führte Buch über deren Familienverhältnisse und laß ihnen vermutlich abends sogar Märchen vor.

Während Werner sich also immer wieder seine verzweifelte Lage klarmachte, spürte er alte Narben seiner grausamen Kindheitserlebnisse aufbrechen. Wieder war er ausgeschlossen worden, nur, daß er diesmal nicht zum Leeren seines Tellers gezwungen wurde oder in seinem Zimmer eingeschlossen war, weil er sich weigerte, dem faltigen Großmutterbesuch ein Abschiedsküsschen auf die Wange zu drücken. Diesmal repräsentierte er nicht bloß die dunkle, lebensunfähige, arbeitsscheue, weltfremde Seite der Unternehmerdynastie, über die man die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte; dieses Mal sollte er sogar eine Art Vatermörder sein, der den Ernährer und Patriarchen des Clans auf dem Gewissen hatte.

Selten war er wirklich einsam gewesen. Er hatte sich zusammen mit seinen Büchern, Adorno und Heidegger, der Tasse Tee sowie seinem Computer immer heimisch und vor allem der Welt, der realen Welt überlegen gefühlt. Jetzt aber schien die Realität in die Lage versetzt, ihn ruinieren zu wollen.

Werner verspürte immer heftiger seinen altbekannten Ekel, wenn er an die Welt außerhalb seiner vier Wände dachte. Doch nur einen Moment lang glaubte er -wie damals als Siebzehnjähriger- , sich verbarrikadieren zu können und durch die Lektüre von Nietzsche zu einem unverwundbaren Siegfried zu werden. Schnell war diese tröstliche Zuversicht abgeklungen und Werner sah sich nun wieder zum aktiven Schritten gegen das Komplott der alten Dame gezwungen. So kramte er das Branchenbuch heraus, schob sich ein Foto der Tante in die Tasche und machte sich auf den Weg.

Werner bemerkte ihn nun schon zum zweiten mal, den fülligen Herrn im grünen Lodenmantel mit dem Gamsbart am Hut. Er stand wieder einmal hinter ihm an der Ampel. "Nachher würde der Grüne sicher wieder unbeweglich in die Ferne starrend an einem Schaufenster stehen und sich kaum nachdem Werner vorbeigegangen war schlendernd in die gleiche Richtung wenden. Werner überlegte, um wen es sich wohl handeln könnte. Wagten die es tatsächlich, ihm so jemanden hinterherzuschicken? Was dachten die sich eigentlich dabei? Die mußten doch davon ausgehen, daß sie es mit einem Mörder zu tun haben! Wie konnten sie ihm da nur eine solche Witzfigur an die Fersen heften wollen?" Werner ärgerte sich. Immer wenn ihm die Tatsache, daß er unter Mordverdacht stand auch nur ein kleines bisschen stolz machte, wurde dieses hehre Gefühl durch irgendwas zerstört. Diesmal war es die Polizei, die ihm da scheinbar eine ganz und gar indiskutable Beschattung zukommen ließ. Diese Typen schienen Werner also doch nicht für ganz so voll zu nehmen, als er es sich erdacht und gewünscht hätte. Doch das ganze hatte natürlich auch seine positiven Seiten. Der Verdacht konnte nicht ganz so dringlich sein, wenn man sich nicht einmal die Mühe einer nicht ganz so unprofessionellen Observation machte. Dieser Gedanke beruhigte Werner nun wieder. Langsam wechselte er die Straßenseite, um hier gemächlich auf die Bushaltestelle zuzuschlendern. In circa 4 Minuten mußte der nächste Bus kommen, außer ihm warteten nur eine ältere Dame mit Einkaufstasche und drei etwa 12 jährige Kinder auf dem Bus. Werner stellte sich ein wenig abseits, er haßte Kinder. Oft hatte er überlegt, woran es liegen könnte, daß er Kinder - und waren sie noch so herzzerreißend artig - nicht leiden konnte. Die drei Mädchen waren tatsächlich recht brav, saßen auf den Sitzen der Bushaltestelle und ließen im gleichen Rhythmus die Beine baumeln, wozu eines ein Lied zu summen schien. Irgendwann hatte Werner selbst überlegt, ob sein Hass nicht eigentlich eine neurotische Angst vor Kindern verdecken könnte. Kinder hatten Werner schon immer irgendwie aus dem Konzept gebracht. Sie waren unkontrollierbar, unberechenbar und vor allem nicht durch Argumente zu überzeugen. Was aber noch schlimmer war: Kinder hatten keine akzeptablen Umgangsformen, so daß Werner einfach nie wußte, mit welchem Benehmen er auf sie reagieren sollte. Kinder erzeugten während seiner Anwesenheit lediglich unangenehm peinliche Situationen, in denen Werner hilflos auf das Wohlwollen von Eltern angewiesen war, die aber den Nachwuchs nicht immer rücksichtsvoll beiseite nahmen, sondern oft auch einen heimlichen Spaß aus Werners Qualen zu machen schienen. Kurz: Werner hatte Angst vor Kindern, wußte aber nicht genau warum.

Während Werner also über Kinder philosophierte, traf endlich der Bus ein. Der grüne Herr hatte sich wie Werner abseits von den Kindern positioniert. Vermutlich hatte dies aber weniger mit einer Abneigung zu tun, als mit dem Vorsatz möglichst dicht bei Werner zu sein, um ihm folgen zu können, wenn dieser in den Bus verschwand. Werner konnte seinen hektischen Puls auf die Ohren hämmern hören. Er schluckte noch einmal, der Bus kam zu stehen, Werner ging mit forschem Schritt auf die Einstiegstür zu, schob sanft die ältere Dame beiseite und konnte so als erster in den Bus springen. Er drehte sich nach dem Grünen um. Sein Beschatter hatte ebenfalls die ältere Dame überholen können, bis sich aber an den Kindern die Zähne aus. Werner hörte eine der Gören mit unbeschreiblich impertinentem Selbstbewußtsein etwas von "es kommt doch jeder dran" plärren, die Fahrgäste lachten, der Beschatter wurde rot. Werner atmete auf, die drei Mädchen kauften noch Fahrkarten, seine Brille rutschte trotzdem den nassen Nasenrücken herunter. Schnell durchschritt er den Bus bis auf Höhe der Ausgangstür und wartete hier, bis sich auch die schimpfende ältere Dame auf dem Trittbrett des Busses befand. Die hintere Türe, also der Ausstieg war glücklicherweise offen geblieben -vermutlich hätte es aber auch keine Probleme gegeben, wenn Werner den Türöffner hätte drücken müssen-. Jedenfalls sprang Werner nun aus dem Bus wieder heraus und begann zu rennen. Alles hatte er vorher schnell noch durchdenken können, nicht aber seine Fluchtrichtung. Werner verfluchte seine Nervosität, als er feststellte, daß er nicht in Fahrtrichtung des Busses laufen sollte. Schnell bremste er ab und wand sich in die entgegengesetzte Richtung. Werner kniff in seiner Kraftanstrengung die Augen zusammen, hatte trotzdem das Gefühl nicht recht beschleunigen zu können. Rechts neben sich hörte er den Bus abfahren. Werner machte erleichtert die Augen auf, sah aber zu seinem Entsetzen seinen grünen Schatten japsend vor sich stehen. Werner mußte instinktiv gewußte haben, daß es keinen Zweck mehr hatte nochmals einen Richtungswechsel zu versuchen. Der Grüne war schon zu nah. Werner faßte ihn fest ins Auge, machte noch einige Schritte direkt auf ihn zu, merkte, daß der dicke Grüne die Augen noch weiter aufriß, presste ein schnaufendes "Tschuldigung" heraus und stieß den Dicken zur Seite. Werner rannte und rannte, wußte irgendwann nicht mehr wo er war; wo er hin wollte, hatte er -wie gesagt- ohnehin nie gewußt. Später spürte er nun umso genauer, daß sein Herz die kritische Pulsfrequenz von 180 pro Minute überschritten haben mußte, ihm wurde schlecht, sein Schädel schmerzte im Rhythmus des Herzens und die Lungen schienen Ihm das Lied vom Tod zu pfeifen. Werner drehte sich um, kein Grüner war mehr zu sehen. Jetzt japste Werner auch aus Freude und Stolz, fühlte sich trotz Übelkeit und Schmerzen wie ein Krimiheld. Natürlich wäre sein Erfolg triumphaler gewesen, hätte der Grüne den Bus - wie geplant - nicht mehr verlassen können. Aber trotzdem, er hatte die Polizei blamiert.

Werner schaute sich um. Er befand sich in einer Wohnsiedlung, die Häuser schienen nicht allzu groß und solide; Werner lächelte milde: gehobener Mittelstand.

Langsam ging er zur nächsten Telefonzelle um sich ein Taxi in die Stadt zu rufen.

Gleich in der ersten Buchhandlung erkannte eine Angestellte die alte Dame auf dem Foto. Werners Herz machte zunächst einen Freudensprung, rächte sich aber für diese Überlastung gleich darauf durch ein schmerzhaftes Stechen. Die Buchhandlung hatte nämlich nie eine Bestellung der fraglichen Literatur über Automechanik entgegengenommen und die freundlich bebrillte Buchhändlerin wurde sich, als sie Werners Enttäuschung bemerkte, immer unsicherer, die alte Dame überhaupt gesehen zu haben.

Werner hätte es sich nicht so anstrengend vorgestellt, im Notfall vielleicht auch alle 23 Buchhandlungen der Stadt zu überprüfen. Jedenfalls hatte er zu Ladenschluß erst knapp 12 Läden besucht und war völlig erschöpft, obwohl er sich doch wieder den Luxus eines Taxis geleistet hatte, das ihn zu seinen Recherchen chauffierte. Werner erschrak nun, als er den Fahrer bezahlte. Er hatte nicht daran gedacht, daß sein Geld in Zukunft knapp werden würde und bekam jetzt ein schlechtes Gewissen wegen seinem Verschwendergeist. Andererseits war er ja gerade dabei, die alte Dame zu überführen und da sie als Mörderin das Erbe nicht antreten könnte, würde er hoffentlich doch bald ein mehrfacher Millionär sein.

Werner bemerkte erstmals selbst das laute Knurren seines Magens, das schon den ganzen Nachmittag die verschiedenen Buchhändler und Kunden irritiert hatte. Die Pizza am gestrigen Abend war seine letzte Mahlzeit gewesen. Er wandte sich dem türkischen Restaurant auf der Straße gegenüber zu. Als er aber nicht sofort eine Gelegenheit zum Überqueren der Fahrbahn hatte, nahm er sich vor, heute ganz auf das Essen zu verzichten und zu sparen. Sein Magen begann etwas zu schmerzen aber das war genau die richtige Strafe für jemanden der sein Geld für sinnlose Taxifahrten verjubelte und sich mit Träumen vom Millionenerbe rechtfertigte. Werner lächelte über seine seltsame Art der Selbstdisziplinierung, drehte sich nun endlich wieder zum Studentenwohnheim um und beeilte sich in seinem Zimmer zu verschwinden.

Samstag

Am nächsten morgen begann Werner, die restlichen 11 Buchhandlungen zu besuchen. Er fürchtete schon, genauso erfolglos wie am Vortag zu bleiben. Doch andererseits hatte die alte Dame keine Gelegenheit gehabt, unbemerkt ohne den Onkel in eine andere Stadt zu fahren. Sie mußte die Bücher also hier gekauft haben. Werner hoffte, daß sie nicht das Glück gehabt hatte, die Bände über Automechanik auf dem Flohmarkt entdeckt zu haben. Also zog er seine Adressenliste und den Stadtplan aus der Tasche und machte sich auf den Weg zum nächsten Buchladen.

Durch Zufall bemerkte Werner dabei ein heruntergekommens Antiquariat in einer kleinen Seitengasse. Ihm wurde klar, daß nicht alle Läden, die für seine Suche in Frage kamen, im Branchenbuch verzeichnet waren. Also wollte er es auch hier versuche. So hielt Werner das Foto der alten Dame wieder unter eine nicht sonderlich interessierte Nase. Nachdem sich der Mann hinter dem Tresen endlich seine Brille aufgesetzt hatte und das Bild selbst in die Hand nahm, schüttelte er erst langsam den Kopf. Werner glaubte den Text, den er jetzt hören würde, schon auswendig zu kennen und wollte gehen. Doch der bebrillte Buchhändler meinte, es sei durchaus möglich, daß eine solche Frau aufgetaucht sei. Er erinnerte sich an einen alte Dame, die nicht zur Stammkundschaft gehörte und daher in seinem Laden, der wohl eher als Geheimtip gelten mußte, aufgefallen war. Der Bebrillte bedauerte, daß er der Dame nicht sofort mit der geeignete Literatur dienen konnte, meinte aber, er habe die Autobücher rechtzeitig zum Geburtstag des Neffen und zur vollen Zufriedenheit der alten Dame besorgen können.

Werner bedankte sich und trottete auf die Straße. Sein Hals war in sekundenschnelle ausgetrocknet und die Hände begannen unangenehm naß zu werden. Die alte Dame hatte also behauptet, die Bücher für Werner zu kaufen und würde vermutlich auch noch aussagen, sie ihm geschenkt zu haben. Werner ärgerte sich darüber, die Dame immer wieder zu unterschätzen. Er hatte geglaubt, nachzuweisen, daß sie sich selbst für die Bremsschläuche des Jaguars interessierte. Die Informationen, die Werner aber tatsächlich gefunden hatte, waren aber eher gefährlich für ihn selbst. Hoffentlich würde der bärtige Polizist nicht darauf kommen, daß er diese Bücher besessen haben sollte. Werner schaute sich um, entdeckte jedoch auch in seinem Rücken niemanden, der als neuer Beschatter in Frage gekommen wäre. Er hustete flach und zwang sich, noch einige Minuten verdächtige Passanten. Erst nachdem er aber alle seine Befürchtungen beobachtet zu werden zerstreuen konnte, beeilte er sich, nach Hause zu kommen.

Als er den geleerten Mülleimer vor seiner Tür entdeckte, mußte Werner unwillkürlich lachen. Die Vorstellung, eine Frau verrichte tatsächlich mit Geduld Freundschaftsdienste, kam ihm völlig absurd und grotesk vor. Doch bald darauf schämte er sich für seine Häme und entwickelte bei dem Gedanken an seine nette Kommilitonin, deren Hilfsangbot ja eigentlich nur rhetorisch gewesen war, ein starkes Gefühl der Demut.

Werner ging nun ins Bad, um zu duschen und sich zu rasieren; schließlich putzte er wegen des Mundgeruchs noch seine Zähne und suchte sein bestes Sakko heraus - das heißt das, was die alte Dame immer für das beste gehalten hatte; Werner selbst konnte nämlich keine qualitativen, ästhetischen Unterschiede zu den anderen Jacketts erkennen. So vorbereitet stand Werner kurz darauf vor der Tür seiner netten Zimmernachbarin. Er hatte Glück, denn sie war gerade allein und war auch für weitern Nachmittag nicht verabredet. Werner schlug vor, die Flasche Sekt, die er als kleines Dankeschön mitgebracht hatte, gemeinsam zu trinken. Die Nachbarin war spontan einverstanden, drückte Werner ein Begrüßungsküsschen auf die schwitzende Wange, die darauf auch noch rot wurde, und zog ihn durch ihre Tür ins Zimmer. Sie stellte sich etwas verlegen als Luise vor, doch fand sie den Namen "Werner" so unbeschreiblich originell und männlich, daß sie sich sofort wieder wohl zu fühlen schien. Luises Zimmer war - wie Werner jetzt feststellte - sehr viel gemütlicher als sein eigenes. Er dachte darüber nach, woran dies liegen könnte. Im Fenster hing eine wahrscheinlich selbstgemachte Häkelgardine in tannengrün, über dem Bett baumelte ein aufgeklappter, roter, japanischer Papiersonnenschirm, die Bettwäsche zeigte auf blauem Grund alle Tierkreiszeichen und überall standen Kerzen, die Luise nun anzündete. Sie berichtete von ihrem Sinologiestudium, den ständigen Lernstreß, die zeitraubenden Hausarbeiten, aber auch von einem Lob das Ihr irgendein Professor ausgesprochen hatte. Schließlich kam Luise auf ihre Kontakte zu dem chinesischen Gastdozenten zu sprechen, gab aber nach einigem Zögern offen zu, daß ihr eine Beziehung zu einem jüngeren Mann weit lieber wäre. Werner schaute auf seine Uhr. Der Mörder des Onkels mußte genau vor einer Woche die Bremsflüssigkeit auslaufen gelassen haben. Das war auch der Zeitpunkt des Alibis nach dem der bärtige Beamte gefragt hatte. Der Onkel hatte jeden Samstag vormittags mit einem seiner Geschäftsfreunde aus Politik oder Wirtschaft Golf gespielt, hatte im Golfclub zu Mittag gegessen und war nach etlichen Magenbittern zur besseren Verdauung meist erst am Nachmittag zurück nach Hause gefahren. Werner konnte sich noch exakt an den Kopf des Onkels erinnern, der jedesmal, wenn sich dessen schwerer Körper Sonntagnachmittags aus dem Jaguar wuchtete, so hochrot war, daß man fürchte, er würde gleich explodieren.

Der Mörder mußte sich jedenfalls am Nachmittag oder am Abend, nach der letzen unversehrten Fahrt des Alten an dem Auto zu schaffen gemacht haben, so daß der Onkel am nächsten Vormittag auf dem Rückweg vom Notar verunglückte. Der kurze Weg zu dessen Kanzlei bestand in der Hauptsache aus Steigungen, so daß es sogar einleuchtete, daß die defekten Bremsen erst auf dem Rückweg zum Unfall führten.

Werner bemühte sich, seine Gastgeberin verständnisvoll anzulächen und zu nicken. Angespannt versuchte er, sich an das Gesprächsthema zu erinnern, um mit einer interessierten Frage gleich wieder unauffällig in den Dialog einsteigen zu können. Doch Werner ärgerte sich umsonst über seine Unachtsamkeit, denn Luise schien sich auch glänzend ohne ihn zu unterhalten. Sie philosophierte gerade über Vor- und Nachteile der verschiedenen Arten von Beziehung und stellte Überlegungen über ihren nächsten Männerkontakt an. Werner dachte darüber nach, ob Luise zu den Menschen gehören könnte, die sich auch Wochen später noch an das genaue Datum eines anregenden Gesprächs erinnern würden. Im Zimmer sah er weder Uhr noch Kalender, kein Radio und Fernsehen, noch nicht einmal eine Zeitung. Werner kam also zu dem Schluß, daß seine neue Bekannte ein weniger inniges Verhältnis zu Zahlen, Nachrichten, Uhrzeiten und zum aktuellen Datum haben müsse. Erleichtert lehnte er sich in Luises Sessel zurück und bemühte sich nun, seine Gedanken wirklich auf deren Erzählen zu konzentrieren.

Sonntag

Die Trauerfeier empfand Werner als äußerst ermüdend. Der Priester schien sich für den mächtigen Mann, den er heute beerdigte, besondere Mühe zu geben und hielt eine lange Grabesrede über den Onkel. Werner bewunderte seine enorme Kreativität, die es ihm erlaubte, dem Onkel die denkbar positivsten Eigenschaften zuzuschreiben.

Nur der anfangs offene Sarg, in dem der aufgedunsene Körper des Onkels lag, sorgte bei Werner für Herzklopfen. Das Gesicht des Alten wirkte bei allem Fett erschreckend schön, wenn es leichenblaß war. Doch was für den eigentlichen Schock sorgte, waren die weit geöffneten Augen des Onkels: Werner fühlte den starrenden Blick des Onkels, dessen Augen inzwischen nicht mehr natürlich weiß waren, sondern einen matten aber stechenden Gelbton hatten. Sie lagen bestimmt gut einen halben Zentimeter tiefer als gewöhnlich, was ihnen zusätzlich ein etwas strenges Aussehen gab. Der Bestattungsunternehmer hatte die Leiche wohl lediglich in den gewünschten Sarg umgebettet und eingekleidet, bei allem Eifer aber nicht mehr auf die Augen geachtet, die ja im Normalfall schon geschlossen sind, wenn er an einem Toten zu arbeiten beginnt. Das Ganze war also auch ein Fehler der Autopsie, die aus irgendeinem Grunde nicht gleich die Augen geschlossen hatte. Werner schaute verunsichert fragend zur alten Dame herüber. Als diese ihm scheinbar zustimmend zunickte, beugte er sich nach vorn und versuchte mit seinen Daumen die Augenlidern des Onkels nach unten zu schieben. Doch die Augen waren schon so ausgetrocknet und verklebt, daß sich Garnichts mehr bewegte. Werner drückte heftiger, die Hornhaut des linken Auges riss wie die Haut eines Spiegeleis und etwas Flüssigkeit lief aus. Er schreckte zurück, fingerte hilflos nach einem Taschentuch um sich die Hände abzuwischen. Werner spürte an seinem gesamten Körper plötzlich den Schweiß strömen; ihm wurde schwindelig und er sah nur noch verschwommen grau, doch mit Konzentration hielt er sich auf den Beinen. Im Hintergrund hörte er jemanden, der lauter als beabsichtigt murmelte, er solle doch wenigstens die Leiche in Frieden lassen, darauf kurze Zeit verlegenes Hüsteln und vorwurfsvolle Blicke in Richtung des vorlauten Murmelers, dann endlich andächtige Stille, nachdem die alte Dame den Sarg schnell aber vorsichtig geschlossen hatte, ohne daß dem Onkel die Augen zugedrückt worden wären. Später meinte sie hierzu, daß ihrem Mann ohnehin immer offene Augen lieber gewesen seien und man ihn daher ruhigen Gewissens - immer noch sehend und beobachtend - beerdigen könne. Die alte Dame wirkte unter ihrem viel zu großen schwarzen Hut inzwischen wieder viel zu gefaßt und zu wenig betroffen. Werner begann das Gerede der restlichen Gäste zu fürchten, sollte sie nicht endlich einmal ihr Taschentuch benutzen.

Doch den Trauergästen schien das alles kaum aufzufallen. Werner hatte die gesamte Prominenz der Stadt, die Geschäftspartner und -freunde des Onkels eingeladen. Nach der eigentlichen Trauerfeier auf dem Friedhof wurden die Gäste schnell weniger, die Laune der alten Dame verschlechterte sich dabei zusehends. Sie hatte wohl den Ruf, die Macht ihres Mannes für größer und seine Freundschaften für tiefer gehalten, als es sich jetzt nach dessen Tod offenbarte. Schließlich blieben zum gemeinsamen Kaffee nur noch die Verwandten übrig. Die Familie war mit der einzigen Schwester des Onkels und den zahlreichen Verwandten der alten Dame vertreten. Obwohl also nur der engere Familienkreis beisammen war und eine ganze Tischreihe im großen Saal leer blieb, schien das Kuchenbüfett nur gerade knapp auszureichen. Peinlich berührt entschuldigte sich der Geschäftsführer des Partyservice hierfür, er habe nicht daran gedacht, daß die Gäste einen meist weiten, anstrengenden Anfahrtsweg und damit entsprechenden Appetit haben würden.

Werner wunderte sich, mit welcher Zielgenauigkeit jedes Gespräch, dem er zuhörte, früher oder später bei der nun fragliche Zukunft der Firma, der gerechtesten Aufteilung des Erbes sowie bei der Frage, ob es ein Testament gebe und ob man sich evtl. mit dem juristisch zuerkannten Pflichtteil abspeisen lassen müsse, endete. Niemand bezog in sein Gespräch Werner mit ein, denn erstens schien er nichts von Geschäften zu verstehen und zweitens sah man wohl noch die Gefahr, daß er vielleicht doch der Alleinerbe sein könnte. Zwar wußten alle von dem Zerwürfnis zwischen dem Onkel und Werner, aber andererseits war der früh verstorbene, ältere Bruder des Onkels, also Werners Vater, Geschäftsführer der Firma gewesen und hätte - wäre Werner nicht noch ein Kind gewesen - gemäß der Familientradition dieses Amt ganz selbstverständlich an seinen Sohn weitergegeben. So gesehen, hätte der Onkel nur ein Vormund sein sollen, der sich nach und nach zugunsten Werners aus der Geschäftsführung zurückziehen sollte, um mit seinem Tod, das Ruder ganz an Werner abzugeben.

Werner flüchtete sich zu den Tortenresten und lies sich von Buttercreme und "Schwarzwälder Kirsch" trösten.

Doch schließlich begann er wieder an sein Körpergewicht zu denken, stellte seinen Teller beiseite und ging ein paar Schritte durch den kleinen Rosengarten der Tante. Die Anlage war eigentlich im Stile eines englischen Gartens angelegt worden: Es gab einen kleinen Teich mit weißen Seerosen und Gänsen, rund um diesen Tümpel mehrere Trauerweiden, deren frisches Grün gerade zu sprießen begann. Alles mutete ganz unkomponiert, natürlich an. Werner fragte sich, ob dies tatsächlich dem Geschmack der alten Dame entspräche und kam schließlich zu dem Schluß, daß die Anlage wohl eher eine Art Tribut an den befreundeten Gartenarchitekten gewesen sein mußte. Die streng geometrisch angeordneten Rosenbeete schienen ihm hier eigentlich fehl am Platze zu sein.

Als Werner an dem Gartenhaus vorbeischlenderte, bemerkte er den bärtigen Kripobeamten, der ihm die Todesnachricht überbracht hatte. Der Bärtige lief ziemlich zielstrebig auf ihn zu. Werner bemerkte, daß seine Brille wieder auf dem schweißnassen Nasenrücken zu rutschen begann. Ihm war eingefallen, daß er einen fatalen Fehler gemacht hatte. Mit zwei schnellen Schritten verschwand er im Gartenhaus und begann fieberhaft nach der Hose der alten Dame zu suchen. Werner kam nicht mehr dazu, seine Fingerabdrücke, die er neulich auf der Zange hinterlassen hatte, vollständig wegzuwischen. Als der Bärtige das Gartenhaus betrat, stand Werner mit dem Rücken zur Wand, an der die Hose hing, und fingerte möglichst unauffällig nach der Zange, die er in die Tasche dieser Gärtnerhose hatte gleiten lassen. Endlich konnte er sie durch den Jeansstoff hindurch ertasten und provisorisch polieren. Der Bärtige grüßte mit einem kurzen Nicken und ging dann mit demonstrativ interessierten Blick in einem Bogen um Werner herum um zu schauen, was dessen Hände hinter seinem Rücken machten. Werner bemerkte, daß ihm das Blut in den Kopf schoß. Er hatte zwar seine Hände über dem Po hinter sein Gürtel gesteckt, als wäre dies für ihn die üblichste Körperhaltung überhaupt, doch leider pendelte die Hose der Alten an ihrem Haken noch immer leicht hin und her. Über das Gesicht des Bärtigen huschte nun ein kleines Lächeln, schweigend stülpte er sich einen Einweghandschuh über und hielt kurz darauf die Kneifzange in seiner Hand.

Werner hatte einen zweiten Fehler gemacht.SSSSSSSSSSSSSSSSSSS

Werner wußte, daß er dem Bärtigen nun eine plausible Erklärung für sein Interesse an den Hosen der alten Dame präsentieren mußte. Doch je hektischer seine Gedanken in alle möglichen Richtungen schossen, desto umso unglaubhafter erschienen ihm die möglichen Ausreden: ein Auftrag der Tante, die Hose in die Reinigung zu bringen; das Finden der Zange im Park; der Entschluß, selbst etwas im Garten zu arbeiten und für die Schubkarre die Zange zu brauchen, Das Holen der Hose als Wischlappen für ein Öllache in der Garage usw.

Werner schupste seine Brille wieder in ihre Normalposition und beschloß, einfach zu schweigen, auch wenn ihm die unerträglichen Blicke des Bärtigen inzwischen das Blut in den Kopf trieben.

Natürlich würde die Polizei keine Fingerabdrücke mehr auf der Zange finden und daß Werner die Indizien manipuliert hatte, lag nach dieser Szene auch nicht auf der Hand. Trotzdem mußte sein Verhalten irgendwie verdächtig gewirkt haben. Werner fühlte sich wieder einmal unangenehm durchschaut und war maßlos enttäuscht über den erneuten Fehlschlag seiner Bemühungen.

Der Bärtige sagte auch kein Wort, schien sein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht zu bekommen und drehte sich schließlich wieder der Tür zu, um sich nach getaner Arbeit am Buffet gütlich zu tun.

Werner machte sich klar, daß der Bärtige beginnen würde, die Familie über ihn und seine Beziehung zu dem Onkel auszufragen. So beeilte er sich, dem Bärtigen wieder ins Haus zu folgen, auch wenn seine Knie eigentlich noch viel zu wacklig waren, um bewegt zu werden. Werner bemerkte die Enttäuschung des Bärtigen, als dieser die leeren Tortenteller entdeckte. Schließlich schien der Kriminologe jedoch noch wenigstens eine Tasse Kaffee ergattert zu haben, schritt darauf zur alten Dame und sagte mit einem warmen Händedruck "herzliches Beileid". Der Bärtige wendete sich nun aber zielstrebig den übrigen Gästen zu: Sein erstes Opfer schien der Arzt des Onkels zu sein. Werner setzte sich nicht weit von beiden zu einem seiner Cousins. Der junge Mann begann lebhaft über seinen Motorradwunsch zu reden und Werner, der ihn interessiert anschaute und immer wieder einmal nickte, konnte auf diese Weise unauffällig einige Gesprächsfetzen aufschnappen, die vom Bärtigen herüberwehten. Der bärtige Kriminologe stellte sich nicht vor, erweckte also den Anschein, er gehöre zur Familie. Werner ärgerte sich über diesen eigentlich doch unfairen Trick, eine Vertrauensbasis zu schaffen um mehr Details recherchieren zu können. Werner überlegte, ob er den Bärtigen vielleicht doch noch begrüßen und bei der Gelegenheit als Polizisten vorstellen solle. Der Bärtige drückte sein Bedauern über den Tod des Onkels aus, füllte erneut das Sektglas des Arztes und schüttelte über die ach so tragischen und unglücklichen Todesumstände den Kopf. Werner ärgerte sich über die Taktlosigkeit des Arztes, zu diesem Anlaß Sekt trinken zu wollen. Nachdem nun wieder etwas Schaumwein in den Hals des Arztes gestürzt war, nickte dieser nachdenklich, lächelte wissend, schaute zu dem Bärtigen auf und legte ihm schließlich tröstend die Hand auf die Schulter. Vielleicht sei ein Unfall in diesem Fall die angenehmer Todesursache gewesen und habe dem alten Onkel viel Unannehmlichkeiten erspart. Werner runzelte die Stirne; ihm wollte nicht einfallen, was hiermit gemeint sein könnte. Der Bärtige zog ebenfalls fragend die Augenbrauen hoch und so berichtete der Arzt von dem Darmkrebs des Onkels, der schon in so fortgeschrittenem Stadium gewesen sei, daß der Onkel bestenfalls noch einen oder zwei Monate ohne Pflege ausgekommen wäre. Der Onkel habe sich mit Temperament einer darmverkürzenden Operation verweigert. Mit gutem Zureden, Drohungen und Bitten sei bei dem alten Starrkopf nichts zu machen gewesen und zwingen könne man den Patienten ja leider auch nicht. Der Alte habe wohl einen Teil der Familie aus irgendeinem Grunde nicht informieren wollen und bis zum Schluß die Schmerzen nicht gezeigt, sondern lediglich seine Essensgewohnheiten umgestellt. Erstaunlich selten habe er ein Schmerzmittel genommen, so daß die Medikamentierung mit Morphium erst vor etwa zwei Wochen begonnen werden mußte.

Werner wüßte nicht, ob er alle Einzelheiten akustisch richtig verstanden hatte und - was ihn noch viel mehr verunsicherte - inwieweit die Neuigkeiten eine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Mord haben könnten. Werner wünschte sich zurück in sein kleines Zimmer und bekam Sehnsucht nach seinem Tee. Der Cousin war in seinen Ausführungen nun bei seinem letzten Skiurlaub angelangt; Werner nickte ein letztes mal und entschuldigte sich dann, er müsse sich kurz frischmachen.

Werner folgte dem Bärtigen noch zu seinem nächsten Opfer, der Schwester des Onkels. Das alte Fräulein kaute trotz des allgemeinen Versorgungsengpasses ohne Unterbrechung an ihrer Erdbeertorte - sie mußte sich irgendwo einen Vorrat angelegt haben -. Hin und wieder tupfte sie mit der Serviette über ihre zart rosa geschminkten Lippen. Einen guten Teil des Lippenstifts konnte man unterdessen auf ihren Schneidezähnen wiederfinden, das störte aber nicht ihre angenehme Gesamterscheinung einer resoluten Dame mit etwas zu üppigen Goldschmuck und etwas zu engen schwarzen Sommerkleid mit den wunderbaren Mohnblumen. Der Bärtige redete auf sie ein, das alte Fräulein ließ sich jedoch nicht stören, gab vor schwerhörig zu sein und blickte wieder auf ihren Teller.

Werner verkniff sich ein Lächeln und rief sich die peinliche Szene im Gartenhaus ins Gedächtnis. Er mußte sich unbedingt über seine Aussage hierüber im Klaren sein. Der Bärtige würde ihn sicher noch über die Zange befragen; schließlich mußte Werners Verhalten tatsächlich verdächtig erscheinen und außerdem müßte der Bärtige wohl bald feststellen, daß die Zange keine Fingerabdrücke trug, und würde sich für diese Enttäuschung bestimmt rächen. Immernoch fiel ihm einfach keine glaubwürdige Ausrede ein und sein fieberhaftes Nachdenken löste sofort wieder körperlichen Streß aus. Werner hatte seine Schläfe in die rechte Hand gestützt und drehte nervös an seinem Weinglas. Plötzlich zuckte er unter einem herzlichen Schlag auf seine Schulter zusammen, drehte sich erschrocken um und erstarrte schließlich, als er die gelben Zähne im grinsenden Gesicht des Bärtigen entdeckte. Der Kriminologe mußte inzwischen auch ein wenig getrunken haben, er verzichtete jedenfalls auf das "Sie" und begann das Gespräch übertrieben kumpelhaft:

Er müsse sich doch wohl nun auch einmal um seinen jungen Freund Werner kümmern. Schließlich sei sein "spezieller Freund Werner" derjenige, der ihm bei der Arbeit am besten weiterhelfen könnte, wenn er nur wollte. So sollte ihm sein bester Freund Werner endlich verraten, was er denn im Gartenhaus gemacht habe; schließlich sollte es zwischen so engen Freunden keine Geheimnisse geben.

Werner bemerkte den Sarkasmus des Bärtigen, wenn er von Freundschaft sprach. Der bärtige Kriminologe schien zu den Menschen zu gehören, die nicht aus Mangel an Sozialprestige, Kontaktangst oder ähnlichem, sondern aus Prinzip keine Freunde hatten. Werner fühlte etwas Mitgefühl, gleichzeitig hörte er sich sagen, daß er beim Abstellen seines Fahrrads in der Garage, die Gärtnerhose der Tante gefunden und in das Gartenhaus zurückgebracht habe. Dort habe er dann die Zange und die Ölflecke entdeckt und natürlich vor der Polizei verbergen wollen, da er fürchte, daß der Verdacht nun auf ihn selbst falle.

Werner erstarrte ganz verdutzt darüber so unkontrolliert gesprochen zu haben, ohne vorher alles gedanklich reflektiert zu haben.

Der Bärtige schaute lange nachdenklich ins Kaminfeuer und nickte dann schließlich anerkennend, er mußte mit Werners Aussage zufrieden sein.

Werner staunte unterdessen über sich selbst. Seine Angst war in dieser "Extremsituation" wie weggeblasen gewesen und sein Unterbewußtsein schien das Problem mit der Ausrede sehr gut gelöst zu haben. Werner hatte sogar selbst an seine Geschichte mit dem Fahrrad geglaubt und mußte sich jetzt die Realität wie eine ferne Erinnerung an einen bösen Traum wachrufen.

Der Bärtige stand inzwischen unweit der alten Dame und betrachtete sie nachdenklich. Endlich hatte ihn Werner auf die richtige Fährte gesetzt.

Montag

Werner lag noch lange in seinem Bett und konnte sich kaum aufraffen endlich zu frühstücken. Der Onkel war also schwer krank gewesen, der Mörder hatte ihm eigentlich eine Art Gefallen getan, vermutlich ohne es zu wissen. Werner überlegte, ob die alte Dame vielleicht wirklich nicht geahnt hatte, wie es um ihn stand. Natürlich wäre es völlig sinnlos gewesen, nach jahrelangem Warten auf die Testamentsänderung zu ihren Gunsten die paar Monate bis zu seinem natürlichen Tod nicht mehr abzuwarten. Andererseits hatte die alte Dame sicher sehr unter dem Despoten gelitten und vielleicht nicht mehr warten können. Wahrscheinlicher war es jedoch, daß sie nichts von der Krankheit ahnte. Werner wußte, daß der Onkel und die alte Dame nur äußerst selten miteinander gesprochen hatten und wenn doch, dann ging es meist um Alltäglichkeiten. Tatsächlich konnte er sich kein Thema bis auf das Wetter und die Disziplinlosigkeit des Hauspersonals vorstellen, an dem Onkel und Tante gleichermaßen interessiert und bewandert gewesen wären. Die alte Dame flüchtete sofort in ihr Gewächshaus, wenn sie eine Zahl aus der Jahresbilanz hörte, und der Onkel ging zu seinem Schreibtisch, wenn die Tante von Schildläusen auf ihren Rosen berichtete. Das der Alte das Essen der Tante schmähte, hatte sie sicher nur als Affront aufgefaßt und daß seine schlechte Laune, das angespannte Gesicht von starken Schmerzen herrührte, hatte sie sicher auch nicht erraten.

Wie auch immer, es schien Werner jedenfalls von Vorteil zu sein, daß er selbst von der Krankheit wußte. So würde er vorgeben, der Onkel habe ihn eingeweiht. Der Bärtige würde ihm glauben müssen, schließlich konnte er ja nicht ahnen, daß Werner sein Gespräch mit dem Arzt mitgehört hatte, und auf diese Weise hätte sich Werner seines Mordmotivs entledigt.

Werner war euphorisch, er schob die Decke beiseite und kroch langsam aus seinem Bett. An diesem Morgen schmeckte ihm sogar das Müsli, das ihm die Zimmernachbarin Luise geschenkt hatte. Das einzige, was Werner jetzt noch etwas Kopfschmerzen bereitete, war der Wein von gestern. Außerdem erschien ihm das Motiv der alten Dame etwas schwach sein. Aber wer wollte schon im Nachhinein beurteilen, wie harmonisch oder wie grausam eine Ehe war und wie groß der Reiz von Geldes auf Rosenzüchter sein konnte.

Werner stand nun wieder vor seinem Kleiderschrank, und überlegte wie gestern, was er anziehen könnte. Um elf Uhr am Vormittag würde der Notar das Testament des Onkels vorlegen. Dieser Anlaß war zwar ganz sicher nicht festlicher als die Trauerfeier, aber ebenso sicher war es die wichtigere Veranstaltung, die schon am offenen Grab alle in Atem gehalten hatte. Werner hatte sich schon vorgenommen, hierzu überhaupt garnicht erst zu erscheinen, um sein geringes Interesse am Erbe zu demonstrieren. Eine solche Geste würde aber sicher völlig aufgesetzt und - wie Werner die Wahrnehmung des Kriminologen einschätzte - wohl auch verdächtig auf den Bärtigen wirken.

Werner entschied sich schließlich den selben schwarzen Anzug wie Zur Beerdigung anzuziehen. Nahm jedoch diesmal die grüne Krawatte und dachte mit einem Schmunzeln daran, daß heute eigentlich die ganze Familie diese Farbe der Hoffnung tragen müßte. Tatsächlich mußte der Besuch des Onkels beim Notar noch kurz vor dessen Tod nicht zwangsläufig bedeuten, daß er enterbt worden war. Werner rechnete sich inzwischen wieder eine realistische Chance aus, zumindest nicht ganz leer auszugehen.

Die Testamentseröffnung sollte im Büro des Onkels stattfinden. Werner konnte es sich wieder nicht verkneifen sich auf den Stuhl des Alten zu setzen. Sein Blick auf die Schreibtischplatte erinnerte ihn jedoch an den Brief des Notars und Anwalt, den er hier gefunden hatte, und ein etwas beklommenes Kribbeln stieg langsam aus seinem Bauch den Hals hinauf. Was, wenn er doch enterbt worden war?

Die übrigen Verwandten, die allesamt in den Gästeräumen oder der nahen Pension übernachtet hatten, schienen auch etwas aufgeregt zu sein: Werner konnte seine Füße nicht mehr rechtzeitig vom Schreibtisch nehmen, als der hagere Bruder der alten Dame in den Raum stürmte. Der blasse Mann mit dem grauen Anzug im DDR-design erstarrte, brummelte geistesabwesend eine Entschuldigung "tut mir leid Josef, ich habe geträumt du wärest gestorben" und war auch schon wieder draußen. Werner schüttelte den Kopf über diese Familie von zerstreuten, kurzsichtigen Schlafwandlern und schämte sich fast ein wenig, irgendwie doch dazuzugehören. Nachdem ihm jedoch die Schwester des Onkels über den Gang entgegenkam, wich die Scham der Angst, vielleicht ebenso neurotisch zu werden wie seine Verwandten. Das alte Fräulein war noch im blau geblümten Nachthemd und hatte sich vermutlich auf dem Weg zur Morgentoilette verlaufen. Sie versuchte das geschickt zu überspielen und grinste Werner nun selbstsicher an. Mit einem kleinen Schmatzen verschwanden ihre Lippen plötzlich noch weiter in ihrem Mund, das alte Fräulein schien keinen Unterkiefer mehr zu besitzen. Werner war im ersten Augenblick zu Tode erschrocken, bemerkte aber sofort, was geschehen sein mußte, und brach vor Lachen in Tränen aus. Das alte Fräulein hatte nicht nur den Weg zum Bad, sondern auch ihre Zahnprothese vergessen. Sie schaute verdutzt, schüttelte in völligem Unverständnis den Kopf und drehte dem verrückten Neffen schließlich den Rücken zu. Erst als sie ihm noch etwas zurufen wollte und lediglich einen Zischlaut herausbekam, bemerkte sie ihr Mißgeschick, wurde ein wenig rot und beschleunigte ihren forschen Schritt. Werner japste noch immer nach Luft, er hoffte das alte Fräulein würde ihm seinen Lachanfall nicht allzu übel nehmen.

Nach einer weiteren Stunde des Wartens traf dann endlich der Notar ein. Werner fühlte sich von dem Mann an Bismark erinnert, wenn der weiße Bart des Notars auch viel bescheidener aussah. Der Onkel war nicht nur Klient des Notars und Anwalt gewesen, sondern auch ein recht guter Freund. Werner mußte an die Abende vor dem Kamin denken, an denen er sich mit dem Anwalt derart angeregt über Politik unterhalten hatte, daß der Onkel endlich einmal ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen hatte und sich seines Neffen nicht wie sonst zu schämen schien. Für Werner waren das seltene Momente von absolutem Glücksgefühl, der Notar und Anwalt war ihm ja schließlich aufgrund einer unerklärlichen Geistesverwandtschaft ähnlich zugetan wie dem Onkel

Es waren einige Stühle in das Büro des Onkels gestellt worden, so daß die Familie jetzt Platz nahm wie in einem Auktionshaus. Alle waren völlig still; die Kinder, die unter den Stühlen hindurchkrabbelten und albern kicherten, wurden schnellsten von ihrer Mutter herausgebracht. Werner fragte sich, warum das ganze nicht in der Kanzlei des Notars stattfand. Vermutlich achtete die alte Dame auch hier wieder auf einen gewissen äußerlichen Rahmen und wahrscheinlich hatte der Notar seine Räume einfach zu billig eingerichtet. Der Mann schien ja tatsächlich nicht sonderlich gut gelaunt zu sein, knurrte ein paar Worte zur Begrüßung in seinen Bart und referierte kurz über die juristische Relevanz von Testamenten, belehrte alle über ihr Einspruchsrecht. Hierauf begann er in seiner Aktentasche zu wühlen, öffnete Momente später einen Umschlag und las schließlich ohne Vorwarnung vor:

Auf Bismarks Gesicht konnte man ein zart angedeutetes Lächeln entdecken, vielversprechend aufmunternd und beruhigend zwinkerte er Werner kaum merklich zu. Werners Herz machte einen Luftsprung. Er war tatsächlich als Alleinerbe und Geschäftsführer vorgesehen. Durch die Stuhlreihen ging ein stummes Raunen, niemand wagte es, auch nur zu hüsteln, obwohl einige bestimmt vor Enttäuschung hätten schreien wollen. Werner drehte sich vorsichtig um, konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. Der sonst immer blasse Bruder der alten Dame hatte einen feuerroten Kopf, die Adern auf seiner Stirn drahten leicht hervor.

Der Notar kratzte an seinem Bart und fuhr nun feierlich fort. Die alte Dame erhielt das Wohnrecht auf Lebenszeit und eine beachtliche Rente, ebenso die Schwester des Onkels. Das alte Fräulein schien damit recht zufrieden und begann ihre Euphorie unterdrücken, ihre lange geschmacklos grobgliedrige Silberkette um den Zeigefinger zu wickeln. Die alte Dame zeigte unterdessen keine Gefühlsregung, starrte unentwegt durch Werner hindurch. Für den hageren Bruder der alten Dame war - wie auch Werners Cousin - eine beträchtliche Geldsumme, jeweils sieben Prozent der Anteilscheine an der Gießerei und selbstverständlich ein Platz im Vorstand vorgesehen. Die Adern an den Schläfen des schmalen Mannes im grauen Anzug nahmen langsam Normalformat an und seine Gesichtsfarbe war wieder gewöhnlich blaß, so daß sie jetzt auffälliger als vorher das Pink seiner Krawatte kontrastierte. Für den Rest der Familie sollte Geldsummen, bei fehlender Liquidität für so große Kapitalentnahmen Anteilscheine an der AG vorgesehen.

Eigentlich konnten alle einigermaßen zufrieden mit dem Ergebnis sein, schließlich hätte es jeden einzelnen auch viel härter treffen können. Werner war jedenfalls zufrieden; so zufrieden, daß ihn die seltsame Schlußklausel des Testaments erst viel später irritieren sollte: In dem Fall, daß einer der Verwandten sein Erbe nicht antreten wolle oder könne, sollte dieser Teil des Vermögens in den Besitz der alten Dame übergehen.

Auch die alte Dame schien nicht zu begreifen, was es hiermit auf sich hatte, jedenfalls hatte sie nicht aufgehört zu starren.

Werner saß nun schon seit Stunden im Büro des Onkels und konnte sich trotz der totenstille, die hier herrschte, nicht beruhigen. Vor ihm tickte erbarmungslos pflichtbewußt die Schrankuhr des Onkels und forderte seinen Betrachteter im Sekundentakt auf, doch endlich Irgend etwas zu tun, die Firmenleitung oder den Verkauf des Unternehmens in die Hand zu nehmen. Werner hatte mit knapp 56 Prozent die Aktienmehrheit an der Gießerei, dem blassen Bruder der alten Dame und dem Cousin waren jeweils 7 Prozent vererbt worden, 30 Prozent befanden sich quasi im freien Handel, davon gehörten zur Zeit etwa 25 Prozent mehreren Familien von Großanlegern, die ihr Packet seit Generationen hielten, 5 Prozent wurden ständig an der Börse gehandelt oder gehörten den Kleinaktionären. Werner hatte keine Idee, wie er soviel Aktien zu Geld machen könnte. Er überlegte, welche Firmen Interesse an einem Kauf interessiert seien und wen er danach fragen müßte, kam aber zu keinem Ergebnis. Andererseits könnte er ja auch einfach einen angestellten Geschäftsführer auf seinen Stuhl setzen und sich von Renditen, Gewinnausschüttungen und Kapitalentnahmen ein schönes Leben machen. Werner war völlig gelähmt vor Nervosität. Seine regelmäßigen Messungen der Pulsfrequenz, die sein selten erhitztes Gemüt doch sonst immer abgekühlt hatten, ließen ihn diesmal lediglich einen Herzfehler befürchten.

Schließlich faßte sich Werner dann doch noch ein Herz und telefonierte mit der Sekretärin des Onkels, obwohl er lange überlegt hatte, welchen der beiden Apparate auf dem Schreibtische des Onkels er benutzen müsse. Die freundliche Stenotypistin sollte einen Kontakt zu einer guten Personalvermittlung herstellen und zweitens jemanden aus der Buchhaltungsabteilung schicken, der ihm die Letzte Jahresbilanz erklären könne. Sein Mißtrauen ließ ihn jeden möglichen Vorbehalt gegen seine Person regelrecht riechen: Werner sah vor seinem geistigen Auge das mitleidige Lächeln der Sekretärin am anderen Ende der Leitung. Was war eigentlich so lustig an Menschen, die keine Bilanzen lesen konnten?

Werner knallte ohne Verabschiedung den Hörer auf die Gabel.

Fürs erste war nun eigentlich nichts mehr zu tun. Werner merkte, daß die Unmengen Beruhigungstee, die er an diesem Tag getrunken hatte, endlich wieder ihre einschläfernde Wirkung zu zeigen begannen. Er war mehr und mehr zufrieden beziehungsweise. stolz mit seinem Telefonat und glaubte schließlich sogar, seine Angst vor der Macht und seine innere Lähmung bei fast jedem Handlungsbedarf abbauen zu haben. Die Zukunft roch zwar immernoch nach Bedrohung, Verfolgung durch die Polizei und die alte Dame, doch bekam sie dabei andererseits einen rosigen Farbschimmer.

Werner schwebte nicht lange auf rosa Wolken. Die Haushälterin kam ohne zu Klopfen ins Zimmer gestampft und meldete Besuch an. Werner war hierüber so empört, daß er lediglich leicht nicken konnte, ansonsten aber stocksteif blieb, da er nicht wußte, ob er die Frau mit der weißen Schürze anschreien oder sich vor ihrem machtvollem Auftreten verkriechen solle.

Wenigstens der Besucher klopfte leicht an, um mit einem unverbindlichen Lächeln unaufgefordert Platz zu nehmen. Werner schaute auf die Pranken des faltige Buchhaltern Mannes und war erleichtert, daß er sich nicht seine zarte Hand hatte schütteln lassen. Sie wäre sicher versehentlich zerquetscht worden. Die Hände des faltigen Buchhalters waren nicht häßlich oder ungepflegt, auch nicht außergewöhnlich derb, sondern einfach nur erschreckend groß und lang. Die Hand sah dabei irgendwie gegerbt aus, fast wie Wildleder.

Der Faltige Buchhalter stellte sich als Buchhalter und Vorsitzender des Betriebsrates vor. Er sei von der Sekretärin des alten Chefs geschickt worden um die Sache mit den Bilanzen zu klären, aber es gäbe auch noch etwas anderes zu besprechen, die Kollegen hätten ihn darum gebeten, er wolle nicht lange drum herum reden, er gehöre eben zu den einfachen, zu den ehrlichen Leuten.

Werner hielt sich ebenfalls für ehrlich, begann aber zu überlegen, ob er auch einfach war.

Der Faltige Buchhalter grinste, als er bemerkte, daß seine spitze Bemerkung über die Ehrlichkeit des Besitzbürgers nicht verstanden worden war und redete weiter. Bei dem Alten habe man eigentlich immer gewußt wo man nun dran sei. Er wolle nun einfach wissen, wie nun weiterhin mit der Firma verfahren werden würde. Ob es Verkaufsgespräche gebe, ob die Franzosen immernoch interessiert seien, ob nun tatsächlich einige Werksstandorte aufgegeben werden.

Werners Hirn arbeitete fieberhaft, schließlich fielen ihm die Sprüche rund um die letzte Firmenpleite in Leuna ein, lächelte das seriöse Lächeln der Treuhandmitarbeiter und hörte sich abwiegeln. Schließlich habe man eine Verantwortung gegenüber den loyalen Mitarbeitern, man habe schließlich Tradition. Die Arbeitsplätze seien sicher. Natürlich sei alles schwieriger geworden, wegen den hohen Lohnnebenkosten, aber man könne sich sicher weiter am Markt behaupten. Bloß keine Sorgen, lieber arbeiten, statt durch Grübeln die Moral zu schädigen. Vielleicht müssen einige Dinge geändert werden. Heutzutage sei Erfolg gleichzusetzen mit Innovation und außerdem gehe es ja insgesamt aufwärts mit der Konjunktur. Von einer Übernahme könne keine Rede sein, die Franzosen seien zurückgeschickt worden. Nur keine Angst.

Werner war stolz auf sich, er blies Luft in seinen Oberkörper, wendete sich vom Faltigen ab und meinte, er habe jetzt zu tun: die Zukunft sichern.

Dem Faltigen Buchhalter war das Grinsen vergangen. Der Onkel war zwar ein Despot gewesen, der keinen Widerspruch duldete, doch hatte er seine Leute nie derart abgefertigt. So sicher schien sich Faltige Buchhalter seiner Sache nicht mehr zu sein. Er brummelte irgend etwas, stand langsam auf und tastete sich noch langsamer rückwärts zu der kleinen Wandtafel an der schon einige Schaubilder zur Jahresbilanz hingen.

Werner atmete auf. Er hatte bemerkt, daß er wohl keinen neuen Freund gewonnen hatte, dafür aber den ängstlichen Respekt des Faltige Buchhaltern. Keine Arbeiter wußte nun, was in Zukunft mit den Arbeitsplätzen geschehen würde. Keiner würde es wagen, ihm irgendwelche Schwierigkeiten zu machen.

Der bescheidene Buchhalter, der nun im Büro des Onkels stand, wirkte auf Werner weitaus angenehmer als der Betriebsrat. Werner lächelte über den gelben Pullunder. Die Angst, sich wegen seiner fachlichen Unkenntnis zu blamieren, war verschwunden. Der Buchhalter bestätigte mit einem kurzen fast unterwürfigen Aufblicken zu Werner, daß er gerne in ein paar einfachen Worten die wirtschaftliche Situation der Firma darlegen wolle.

Die Lage des Konzerns schien keineswegs so stabil zu sein wie Werner immer geglaubt hatte. In den letzten zwei Jahren waren bei einem Umsatz von etwa 425 und 340 Mio DM jeweils 6 und 9 Mio DM Verluste eingefahren worden. Durch das Abstoßen von kleineren Tochterunternehmen hatte man auf Kredite zur Erhaltung der Liquidität verzichten können und sogar einige Investitionen in die Umstrukturierung der großen Rohrzieherei tätigen können. Nur so konnte auch vermieden werden, daß durch ein schnelles Studium der Jahresbilanz, die desolate Lage des Unternehmens offenkundig wurde, so daß der Kursverfall der Aktie noch im Rahmen des Normalen, des Durchschnitts lag. Das gesamte mittlere und höhere Management war während der letzten drei Monate ausgewechselt worden, was im Moment wegen der natürlichen anfänglichen Turbulenzen noch keinen Effekt zeigte. So liefen schon die Arbeitsrechtsprozesse der Alten, während die Konzepte der teuren, uneingearbeiteten neuen Leute waren bis jetzt noch garnicht entworfen worden waren. Dabei war das interne Chaos keineswegs das eigentliche Problem: Die kränkelnde Autoindustrie hatte ihre Auftragsvolumina stark gedrosselt, Billigstahl geringer Qualität aus der Tschechei machte immer ernsthafter Konkurrenz, mit der Höhenflug der deutschen Mark an den Devisenbörsen waren große Teile des Exporthandels zusammengebrochen, die Modernisierung der Produktionsanlagen hielt mit den immer neuen Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen nicht Schritt, die Steuern, Energiekosten waren gestiegen, der verstärkte Einsatz von Robotern in der Produktion war unbedingt nötig um wieder wirtschaftlich zu arbeiten, war aber nicht zu finanzieren.

Nachdem ihn der Buchhalter endlich verlassen hatte, war Werner erschöpft und schweißgebadet, wie beim Erwachen aus einem Alptraum. Tatsächlich überlegte er, ob er nicht vielleicht doch nur schlecht träume. Der Onkel war alles doch nicht der geniale, unfehlbare, immer erfolgreiche Übervater gewesen, für den ihn alle - auch er sich selbst - gehalten hatten. Wen sollte es wundern, daß der Onkel Magengeschwüre bekommen hatte, als er bemerkte, daß er auch zu Mißerfolgen in der Lagen war.

Werner dachte darüber nach, ob der Onkel sich durch sein hartes Durchgreifen in der Firma nicht vielleicht dort Feinde gemacht haben könnte. Vor etwa drei Monaten hatte er sein Büro aus dem Verwaltungsgebäude zu sich nachhause in die kleine Villa verlegt. Das fiel ungefähr mit seiner Reinigungsaktion zusammen. Werner vermutete einen Zusammenhang, doch ihm schien ein handfester Anhaltspunkt oder die nötige Phantasie zu fehlen, um sich hierzu eine konkrete Geschichte vorstellen zu können. Er erwog das Einschalten eines privaten Ermittlers. Doch wahrscheinlich würde er sich dadurch bloß verdächtig zu machen. Und das Risiko, der Detektiv könnte von dem fleißigen Bärtigen entdeckt werden, war ihm zu groß. Außerdem wußte er nicht, wen er hierzu konsultieren könnte. Werner wollte lieber wieder still abwarten.

Dienstag

Werner fand die Hitze am Hochofen unerträglich. Das Gesicht des Buchhalters im Pullunder schien auch immer rötlicher zu werden, doch hörte er einfach nicht auf, auf Werner einzureden, um die Funktion der einzelnen Produktionsstraßen zu erklären. Werner hatte aufgehört zuzuhören, das Brüllen des Buchhalters ging ohnehin im Meer donnernder Geräusche der alles bezwingenden Technik unter. Werner spürte das Schaudern des Futurismus. Einige Gestalten in silbernen Astronatenoutfit, vom Himmel gestürzte Engel leerten immer wieder große Schmelztiegel des besiegten flüssigem Eisens. In unendlich langen Bächen schlängelten sich die dampfenden Legierungen durch die düsteren, nur von der roten Glut beleuchteten heiligen Hallen. Werner mußte an den Hades, das Purgatorium der Antike denken und hatte etwas Mühe sich in seiner Rolle als Gebieter über dieses Inferno wohl zu fühlen. Nirgends konnte er einen Thron entdecken, von dem aus er sein Schattenreich hätte überblicken können. Die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen waren falsch gewesen. Erst heute da Satan den griechischen Alptraum vom Orkus tatsächlich wahr gemacht hatte, bemerkte er, daß er selbst in seinem unglücklichen Werk gefangen war.

Werner flüchtete gefolgt von dem aufgeregten Buchhalter in Richtung des Verwaltungsgebäudes. Sicherlich war dies ein ebenso höllischer Ort wie die Gießerei, aber die Klimaanlage machte dies weit weniger offensichtlich.

Werner wurde der Sekretärin des Onkels vorgestellt. Obwohl er derartige Dinge nicht so genau beurteilen konnte, hatte er den Verdacht, den Geschmack des Onkels unterschätzt zu haben. Die schöne Blonde lächelte etwas gekünstelt, stand sogar höflich auf um ihn zu begrüßen. Werner amüsierte sich über ihren feuchten, kraftlosen Händedruck und bemerkte erst jetzt ihren wohl einzigen Schönheitsfehler. Die oberen Schneidezähne der Sekretärin hatten sich erschrecken weit nach vorn geschoben, so daß sie sogar die Oberlippe anzuheben schienen. Zu den Zähnen paßte lediglich die nasale Stimme der Sekretärin. Ansonsten schienen sie wohl tatsächlich etwas aus dem Rahmen ihrer Makellosigkeit zu fallen, denn auch die Mundwinkel des faltigen Buchhaltern begannen ein kleines wissendes Lächeln zu formen.

Werner bezog wieder das alte Büro des Onkels, wollte jetzt, nachdem er die Firma ein wenig kennengelernt hatte, nur noch in Ruhe auf den Anruf der Personalvermittlung warten. Er brauchte dringend einen fähigen zuverlässigen Mann, der für ihn die Leitung der Firma in die Hände nehmen könnte.

Die Sekretärin brachte einen Kaffee herein. Werner sah im spiegelnden Fenster, dem er sich auf seinem Drehstuhl zugewandt hatte, wie sie noch schnell eines ihrer langen blonden Haare mit spitzen Fingernägeln aus der Tasse fischte. Er ließ sie noch einen zweiten Kaffee holen und begann eine belanglose Plauderei. Natürlich ging es um den alten Chef, wie prima er doch alles im Griff gehabt habe, wie er dies und wie er das gemeistert hatte. Es sei nun mal wichtig Charakter zu haben, wenn man einen Konzern führe; daher sei sie auch jetzt, da Werner hier sei, nicht mehr beunruhigt über die Zukunft.

Die Sekretärin schien exzellent Lügen zu können.

Ja der Alte sei ein echtes Phänomen gewesen. Das habe man gerade bei seiner Säuberungsaktion in den letzten Monaten gemerkt. Da habe es viel böses Blut gegeben, die Leute seien so gekränkt gewesen. Naja, wer aber seine Arbeit nicht gut genug macht, der dürfe sich dann hinterher nicht beschweren.

Die junge Klatschtante begann Werner auf die Nerven zu gehen. Sie schien das aber entweder nicht zu bemerken oder nicht zu stören, jedenfalls redete sie weiter.

Naja, da der Alte aber nun tot ist, müsse wohl in nächster Zeit keiner von den Herren Angst haben, entlassen zu werden. Jedenfalls gebe ja noch einige auf der Abschußliste, die noch nicht entlassen worden waren.

Werner horchte auf und begann hartnäckig nachzuhaken. Nur zögerlich rückte die Sekretärin mit Namen und weiteren Einzelheiten heraus. Unter den Managern, deren Entlassung noch ausstand, war es lediglich der Buchhalter, der Werners Interesse weckte. Die meisten hatten wohl schon einen anderen Job in Aussicht und würden laut Absprache in Kürze selbst die Kündigung einreichen. Nur der faltige Buchhalter, Leiter der Rechnungsabteilung schien sich nach seiner 35-jährigen Karriere in der Firma mit der Trennung schwer zu tun. Der Vater von drei Kindern hatte sich nach seinem Realschulabschluß über eine einfache Ausbildung zum Industriekaufmann, die er aus irgendwelchen Gründen nie rechtskräftig abgeschlossen hatte, war langsam aber Zielstrebig immer weiter in der Firmenhierarchie aufgestiegen. In sechs Jahren würde er ohnedies in Rente gehen, hatte mit seinen Alter schlechte Chancen auf dem schwierigen Arbeitsmarkt. Unter den bisher neidischen Kollegen ging angeblich schon lange das Gerücht der Faltige habe sich durch einen Hausbau, dem Lebenswandel seiner Frau und die Unternehmerambitionen eines nahen Verwandten hoch verschuldet. Vor etwa vier Wochen habe dieser enorme Streß zu einem Herzinfarkt geführt und der Onkel hatte wohl noch einmal Gnade walten lassen.

Werner hatte aufgehört zuzuhören. Scheinbar hatte nicht nur die alte Dame und er selbst ein Mordmotiv. Er mußte unbedingt dieser neuen Möglichkeit nachgehen. Nicht das es Werner angenehmer gewesen wäre, wenn der Bärtige nun den faltigen Buchhalter statt der alten Dame vor Gericht bringen würde. Aber vielleicht würde der bärtige Kriminologe der neuen Spur bereitwilliger folgen. Außerdem schien ihm der Buchhalter weit weniger gefährlich als die alte Dame zu sein. Lenkte Werner den Verdacht auf ihn, würde er sich vermutlich kaum wehren können.

Werner verspürte einen unsagbaren Tatendrang und machte sich sofort auf den Weg zur Villa.

Die Papiermülltonne enthielt wie vermutet ein breites Angebot an internationaler Presse. Werner griff wahllos eine der alten Tageszeitungen heraus, klemmte sie sich unter den Arm und stürmte aufgeregt, aber gut gelaunt in das einstige Arbeitszimmer des Onkels.

Es war garnicht so einfach, jeweils den gerade benötigten Buchstaben in der Zeitung auch schnell zu finden. Werner mußte schließlich auf die kleinen Buchstaben des Textes zurückgreifen, da das Angebot aus den Schlagzeilen zur Neige ging. Schnitt er sie vorsichtig mit der kleinen Nagelschere aus, so konnte er diese Buchstaben ohne weiters mitverwenden.

Auf diese Weise hatte Werner nach fast einer Stunde harter Arbeit seinen Drohbrief fertiggestellt. Er überlegte, welchen Briefumschlag er verwenden könnte; meinte dann schließlich, man sollte vielleicht die in der Firma üblichen, billigen Umweltpapierumschläge nehmen, auch wenn das vielleicht einen etwas zu offensichtlicher Hinweis war. Der Bärtige Polizist war sicher nicht allzu feinfühlig, nach Werners Einschätzung waren die kriminologischen Fähigkeiten des Beamten so gering, daß er lieber überdeutliche Zeichen sprechen lassen wollte.

Schade, daß der faltige Buchhalter keine Schreibmaschine mehr hatte, die er hätte verwenden können. Werner verfluchte die anonyme Computertechnik. Er hatte zwar irgendwo gelesen, daß es Verfahren gab, Schriftstücke dem Nadeldrucker zuzuordnen, aus dem es stammte. Aber dem Bärtigen und seiner provinziellen Spurensicherung stand eine solche Technik sicherlich nicht zur Verfügung und so lohnte es bestimmt nicht, den PC des faltigen Buchhalters zu bemühen.

Er klebte also noch fein säuberlich seine Adresse auf den Umschlag und obwohl die Briefmarkengummierung wieder einmal scheußlich geschmeckt hatte, grinste Werner jetzt vor Stolz und Zufriedenheit.

Den Brief verstaute er sicher in seiner Jackentasche, die zerschnitte Zeitung verbrannte er im Badezimmer. Als die alte Dame wegen eines dringenden Bedürfnisses energisch klopfte, wurde Werner etwas nervös, schaute ungeduldig auf das viel zu langsam brennende Papier und fürchtete, daß ihn der Rauchgeruch verraten würde. Erst nachdem die Asche - wie geplant - im Klo verschwunden war, die Fenster weit offenstanden und Unmengen von Rasierwasser den Qualmgeruch überdeckten, konnte Werner einigermaßen gefahrlos die Tür wieder öffnen. Doch die alte Dame hatte sich schon ins Gästebad geflüchtet, Werner atmete erleichtert auf.

Er beeilte sich, das Haus zu verlassen, um noch den letzten Bus in die Innenstadt zu erwischen. Werner bemerkte, daß sich seine Einstellung zu Recht und Gesetz in der letzten Zeit grundlegend gewandelt haben mußte: Nur aus Abenteuerlust fuhr er heute zum ersten Male ohne Fahrschein und hatte nicht die Spur eines schlechten Gewissens. Es machte ihm Spaß, bei jedem Stop das aufgeregte Grieben im Magen zu spüren. Stieg etwa ein Schaffner zu? Nein, die Türen schlossen sich wieder, er hatte Glück gehabt!

Außerdem stieg in Werner sich immer mehr eine selbstbewußte Genugtuung darüber auf, Geld gespart zu haben. In gewisser Weise handelte er sehr verantwortungsvoll, er war zum erstmals in seinem Leben sparsam.

Einen Briefkasten in der Innenstadt hielt Werner für am besten geeignet. Vielleicht würde er schon am nächsten Tag Post erhalten.

Werner war rundum glücklich, als er jetzt seinen Weg zu Studentenwohnheim antrat. Er mußte sich unbedingt ein wenig um sein Zimmer kümmern. Die Lebensmittel im kleinen Kühlschrank waren bestimmt schon teilweise in Verwesung übergegangen. Werner hatte die schlechte Angewohnheit, Nahrungsmittel quasi nur zwangsweise zu verbrauchen, nämlich dann, wenn das Verfallsdatum kurz bevorstand. Auf diese Weise lagerte zum einen immer ein breites Nahrungsangebot im Kühlschrank, das jedem Besucher imponierte und zum anderen wurde Werner dabei die schwere Entscheidung abgenommen, was er nun tatsächlich essen sollte.

Den stinkenden Mülleimer brachte er also heute selbst nach unten; Luise lächelte ihm sichtlich erleichtert entgegen. Diesmal hatte sie eine Flasche Sekt dabei und wollte mit Werner zusammen auf alle "fleißigen Hausmänner" trinken. Werner ärgerte sich ein wenig darüber, daß sie ihn für nicht intelligent genug hielt, diese sicher nur spaßig Spitze zu bemerken. So entschuldigte er sich in aller Form dafür, ihr damals seine Hausarbeit aufgebürdet zu haben. Er habe gewaltigen Streß gehabt, denn sein Onkel sei ermordet worden und er müsse sich nun um die Firma kümmern.

Auch wenn sie bei Werners Mordgeschichte noch etwas ungläubig die Stirn gerunzelt hatte, jetzt machte sich reinste Scham auf ihrem Gesicht breit. Das mit den Hausmännern habe sie doch nicht als Kritik gemeint, außerdem habe sie ja nicht wissen können und es tue ihr ja so leid.

Werner liebte es, ihre Demut ihm gegenüber auszukosten, verzieh ihr großmütig und ließ sich dann doch noch zu einem Gläschen Sekt herab. Das Gespräch entwickelte sich fast, wie beim letzten Zusammentreffen. Luise schien nur etwas zurückhaltender; vermutlich lag es daran, daß sie heute in Werners Zimmer saßen. Er hatte sich wie bei einem antiken römischen Gelage auf seinem Bett plaziert, sehnte sich aber trotz des Sekts nach einer Tasse Tee. Sie saß ihrerseits wiederum unsicher auf Werners einzigen Stuhl und sehnte sich, mit ihm den Platz zu tauschen und auf der gemütlicheren Pritsche sitzen zu dürfen. So hatte wieder einmal zwei Menschen einen Wunsch, den sie nicht wagten einander mitzuteilen; natürlich wurde die Atmosphäre merklich gereizter und unbehaglicher. Werner überlegte, woran das liegen könnte, kam zu keinem vernünftigen Ergebnis, gab schließlich resigniert die Grübelei auf und meinte, er müsse jetzt unbedingt etwas Essen gehen, sie könne ja gern mitkommen, sei eingeladen. Werner war erstaunt mit welchem Elan und welcher Begeisterung, sie die Einladung annahm.

So saßen sie kurze Zeit später in einem chinesischen Restaurant. Werners Herz stockte, als er die Preise in der Karte inspizierte. Doch schnell rief er sich ins Gedächtnis, daß er jetzt der Firmenchef war und sich so etwas leisten sollte. Werner überlegte, warum er früher, als er es sich eigentlich garnicht leisten konnte, vermutlich ohne mit der Wimper zu zucken, jeden Preis für ein kultiviertes Essen gezahlt hätte. Reichtum schien sparsam zu machen, weshalb er sich auch selbst reproduzierte. Die kleine schlitzäugige Chinesin zischelte irgend etwas in ihrem grausamen Akzent und neigte in verlogener, unterwürfigen Höflichkeit den Kopf nach vorn. Werner lächelte und bestellte Sojakeimsalat, seine Begleiterin orderte das Huhn für unverschämte 27,- DM, aß aber nicht einmal auf. Werner fühlte sich ausgenutzt, ließ sich aber nichts anmerken. Er plauderte munter über sein bisheriges Studium, sprach über seine eigenen philosophisch Essays und hielt schließlich ein kleines Referat über Lao Tse, von dem Luise als Sinologin sichtlich beeindruckt war. Sie warf ihm lange bewundernde Kinderblicke zu und Werner fühlte sich wieder geschmeichelt. Schließlich gab er vor lauter guter Laune sogar noch ein kleines Trinkgeld.

Nach dem Essen besuchten sie noch etliche Kneipen, die Werner unbedingt noch kennenlernen mußte. Wenn Luise betrunken war konnte sie regelrecht anstrengend autoritär sein. Werner spürte den Alkohol wie einen Pfropfen im Hals, der seine Gefühle vom Kopf fernhielt. So sah er seine Arme Gestikulieren, fand aber erst keinen Grund, dann keine Kraft und schließlich keinen Weg, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Denken schien nur noch lähmend langsam von statten zu gehen.

Mittwoch

Werner konnte sich nicht mehr erinnern, wie er zurück in sein Zimmer gekommen war. Er wußte bloß noch, daß er sich irgendwann relativ resolut gegen den Besuch der nächsten Kneipe gewehrt hatte und sah jetzt wieder die schmollende Unterlippe Luises vor sich. Werner kroch nun also aus seinem Bett, um zunächst sein Portemonnaie zu inspizieren. So türmte er die letzten Münzen, die er jetzt überall auf seinem Bett verteilt hatte, zu kleinen Türmen auf und stellte nicht gerade erleichtert fest, daß er wohl ungefähr einhundertundneunzig Mark ausgegeben haben mußte. Erst jetzt begann Werner auch seinen Kopf zu spüren. Der Puls hämmerte heftigst unter den Schläfen und die Haaransätze schienen irgendwo auf seiner Hirnrinde zu wurzeln, in die sie sich immer weiter hineinbohrten. Werner legte seinen schweren Kopf zurück auf das Kissen und wartete, bis er sich sein Herzschlag wieder soweit beruhigt hatte, daß er nicht mehr durch den geschundenen Kopf zuckte.

Kaum war er wieder etwas eingeschlummert, hörte er wieder das energische Klopfen Luises an seiner Tür. Zunächst wollte Werner sich einfach schlafend stellen, um seine Besucherin wieder los zu werden. Doch dabei hatte er weder mit Luises Impertinenz noch mit seiner gestrigen Gedächtnisschwäche gerechnet. Der Alkohol hatte ihn wohl vergessen lassen, wie üblich seine Türe abzuschließen; und Luise stieß jetzt ganz einfach seine Zimmertür auf, um in ihrem weisen Sommerkleid fröhlich vor sein Bett zu hüpfen. Werner war davon überzeugt, daß ihr penetrantes Lachen, perfekt in die Fernsehwerbung für eines der vielen erfrischen, spritzigen und gesunden Mineralwässer gepaßt hätte, und drehte sich von soviel Vitalität überfordert zu dem Blumenmuster der Wand um.

Langsam begann das Aspirin, das Luise mitgebracht hatte, zu wirken und Werners Laune besserte sich, wenn auch sein Lächeln immernoch etwas gezwungen und zartbitter wirken mußte. Zum Gluck bemerkte Luise nichts davon und begann munter von dem Kummer über ihre unausstehlichen Sommersprossen zu erzählen. Werner schonte seine Nerven, ließ ihren Redefluß an sich vorbeiziehen und erklärte lediglich aufgrund ihres erwartungsvollen Blicks, daß Sommersprossen in Wirklichkeit doch wunderbar seien.

Nachdem Werner auf diese Weise fast eine halbe Stunde durchlitten hatte, fiel seiner neuen Freundin endlich ein, daß sie ja Werners Post, die Zeitung und ein paar Brötchen mitgebracht hatte. Luise fand es äußert witzig, daß auch ein Brief ihres Vaters zwischen der üblichen Trauer- und Beileidspost war. Werner erstarrte und begann erst langsam zu begreifen. Auf seine Rückfrage schaute Luise recht erstaunt. Sie hatte geglaubt, Werner wisse, daß sie die Tochter des faltigen Buchhalters und Betriebsrates war, den er ja schon kennengelernt hatte. Schließlich war Luise auf Wunsch von Werners Onkel eigens aus ihrer kleinen Wohnung ausgezogen, damit sie sich gegen ein kleines Honorar um den in Ungnade gefallenen Neffen des Chefs kümmern konnte. Werner war zwar froh, daß Luise gleich freiwillig ihr kleines Geständnis machte, aber der Gedanke an den alten Onkel, der ihm noch in seinem 23sten Lebensjahr eine Gouvernante zur Seite gestellt hatte, ließ seinen Atem stocken. Werners Brille machte sich wieder einmal auf ihre Talfahrt den Nasenrücken herunter und das Aspirin schien nun plötzlich den Dienst aufzukündigen. Werner spürte eine bisher nicht gekannte Aggressivität in sich. Er verfluchte den Tod des Onkels, durch den er Werners Rache entzogen war, und dachte daran, nun wenigstens Luise etwas leiden zu lassen. Leider fiel ihm absolut nichts angemessenes ein, was er ihr hätte antun können, so daß er nur in sich hineingrummelte, er wolle sie kotzen sehen. Luise legte darauf verständnisvoll ihre kleine Hand auf Werners schmale Schulter und meinte im verständnisvollen Tonfall einer Pädagogin, Werner habe vollkommen Recht, sie fände das auch alles zum kotzen. Luise schien ihn wieder einmal nicht recht verstanden zu haben. Werner resigniert also und gab auch sein Vorhaben auf, sie wegzuschicken. Schließlich konnte ihm Luise trotz allem noch nützlich sein; es war also besser, noch einige Zeit höflich zu bleiben und ihre Gesellschaft zu ertragen.

Luise begann nun immer neugieriger zu dem Brief ihres Vaters zu schielen. Werner versuchte sie verzweifelt mit irgendeinem hoch interessanten Gesprächsthema abzulenken und begann in seiner Aufregung, Schlagzeile für Schlagzeile der aufgefalteten Zeitung anzusprechen. Eigentlich hätte er wissen müssen, daß Luise weder durch Greenpeaceaktionen noch durch ein Gipfeltreffen oder Sprengstoffanschläge in nächster Nachbarschaft zu beeindrucken war. Ihr Blick blieb auf den Briefumschlag geheftet, so daß sie schließlich das scheinbar doch Unvermeidbare tat und Werner fragte, ob er den Brief nicht endlich öffnen wolle. Werner stellte sich ihr Gesicht vor, sollte sie tatsächlich seinen an sich selbst adressierten Drohbrief zu lesen bekommen. Allein um sich diesen Anblick zu ersparen, würde er den Umschlag mit Zähnen und Klauen verteidigen. Vermutlich würde Luise garnicht erst annehmen, daß ein solcher Brief tatsächlich von ihrem Vater stamme, daher sofort einen Verdacht gegen Werner selbst hegen und ihn aus Rache und Enttäuschung mit einem großen Küchenmesser durchbohren. Sollte sie jedoch von der Schuld des Vaters ausgehen, so würde sie sich vor Kram vielleicht selbst etwas antun. Eine Tragödie schien also unausweichlich. Werner wählte das kleinste der Dramen und meinte, es handele sich um etwas geschäftliches, aus dem er Luise heraushalten müsse. Luise schien im ersten Augenblick beeindruckt, fachte ihn dann aber mit einem kräftigen Ausdruck von kindlichen Trotz an, er habe keinen Humor, sei ein Spielverderber und Geheimniskrämer, jedenfalls kein richtiger Freund. Werner versuchte mit seinem verkrampften Lachen die Situation irgendwie zu entschärfen, doch erreichte er damit bloß das Gegenteil. Luise sah in mit stechenden Blick an und meinte, wenn er sie nicht ernstnehme, könne er auch nicht von ihr erwarten, selbst ernstgenommen zu werden. Hierauf riß sie ihm den Brief aus der Hand und rannte unter alberenen Gelächter zur Tür. Werner blieb versteinert stehen, so daß Luise sich noch einmal umdrehte, um ihn zur Verfolgung aufzufordern. Obwohl Luise ständig hysterisch Lachen mußte, legte sie doch ein gewaltiges Tempo vor, so daß Werner Mühe hatte, sie in den Fluren des Wohnheims nicht aus den Augen zu verlieren. So rannte er mit verbissener Mine seiner Zimmernachbarin hinterher, die immernoch ihr wieherndes Lachen ausstieß und offenbar großen Spaß an diesem Auffrischen von Kindheitserinnerungen an wilde Versteckspiele hatte. Werner hatte das Gefühl, sein Kopf müsse jeden Augenblick explodieren. Beim Ausatmen hatte er jedesmal Angst, die schmerzende Lunge könnte sich mit ihrem Drängen, durch seinen viel zu engen Hals endlich nach draußen zu gelangen, durchsetzen. Zimmertüren wurden aufgerissen und nach dem ersten Kopfschütteln über die beiden verrückten klatschten die meisten Bewohner Beifall und feuerten Jäger und Gejagte zu sportlichen Höchstleistungen an. Es schien kaum eine Chance zu bestehen, daß Luise von diesem Spiel irgendwann genug haben würde. Völlig erschöpft streckte also Werner erneut die Waffen, ging langsam in die Knie und konnte nun endlich seine Hände gegen die Schädeldecke pressen, um sie am platzen zu hindern. Erst nachdem das gestrige Abendessen auf dem Flur lag und die verantwortungslos überlastete Asthmatikerlunge den Körper nicht mehr verlassen wollten, wurden die vielen Zimmertüren in einem Ausdruck des Ekels vor dem chinesischem Menü wieder geschlossen und das Spektakel schien endlich beendet zu sein. Luise war sichtlich enttäuscht, doch Werners pfeifendes Atmen weckte doch soviel Mitleid in ihr, daß sie ihm den Brief zurückgab und für die Reinigungsarbeiten einen Putzeimer sowie eine halbe Rolle ihres extraweichen Toilettenpapiers zur Verfügung stellte. Werner zwang sich, ein "Danke" herauszupressen und kroch in Richtung seines Zimmers, während Luise immer wieder verständnislos den Kopf schüttelte und meinte, man könne ja nicht ahnen, daß er sich wegen eines Briefes gleich so aufrege, so ein Theater mache und dabei nicht mal fit genug sei.

Donnerstag

Werner war den ganzen restlichen Tag im Bett geblieben, hatte schon gegen Abend wieder Lust auf Pizza bekommen und sich demnach recht schnell regeneriert. Doch nachdem ihn nun also keine Magenschmerzen mehr quälten, machte sich Werner umso mehr Sorgen über den Vorfall mit dem Brief, so daß er nur sehr schwer eingeschlafen war.

Sollte Luise erfahren, daß ihr Vater den Erpresserbrief an Werner geschrieben hat und somit unter Mordverdacht steht, würde sie ihm bestimmt sein sicher geglaubtes Alibi platzen. Werner hatte in der halb durchwachten Nacht beschlossen, jetzt alles auf eine Karte zu setzen und begann sich nun bedächtig anzukleiden. Natürlich war heute das Auswählen der Klamotten besonders langwierig, schließlich mußte er zu seinem großen Auftritt, den bestmöglichen Eindruck machen. Werner stellte sich jede nur denkbare Reaktion beim Bärtigen vor und war schließlich für jeden möglichen Gesprächsverlauf mit der passenden psychologischen Taktik ausgestattet. Nachdem er also seinem Zimmer den Rücken zugekehrt hatte, atmete er einmal tief durch und setzte sein ernstes, selbstsicheres Maskengesicht auf. Auf ein Frühstück wollte er heute verzichten. Zielstrebig marschierte er durch die Fußgängerzone, achtete aber darauf, nicht zu schnell zu werden. Wenn er am Schreibtisch des Bärtigen sitzen würde, dann auf keinen Fall verschwitzt. Werner hatte das Gefühl, die Menschen auf der Straße sähen ihn mit ein wenig mehr Respekt an als sonst. Sein geschäftsmäßiges Auftreten schien Wirkung zu zeigen. Mit ungewohntem Elan stieß er die schwere hölzerne Tür des Kriminalamtes auf, grüßte den Mann am Portal mit einem kurzen Kopfnicken und fragte, wo er Herrn Jellink finden könne. Der Beamte antwortete erstaunlicherweise prompt und überaus freundlich, wünschte sogar noch einen guten Tag, als habe er es mit dem Oberstaatsanwalt zu tun. Werner lächelte zufrieden und war sich jetzt Fact sicher auch den Bärtigen überrumpeln zu können. Werner bewunderte sich selbst dafür, daß seine Handflächen garnicht feucht waren als er sie vorsorglich trocknen wollte. Umso energischer klopfte er jetzt an, trat ohne auf ein "Herein" zu warten ein und begrüßte den Bärtigen mit einem kraftvollen Händedruck. Der Bärtige ließ sich seine Verwunderung

Über Werners selbstbewußte Sicherheit nicht anmerken und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Werner ließ sich hierauf zufrieden in den Stuhl fallen, um zunächst einmal eine Weile zu schweigen und theatralisch die Hand vor den Mund zu legen, als müsse er erst einmal mit hochgezogenen Augenbrauen die rechten Worte finden. Werner meinte, der Bärtige solle getrost vor Spannung platzen, denn erstens konnte er so sicher sein, ein offenes Ohr zu finden und zweitens sah er sich gern in einer Machtposition über den verhaßten Kriminologen.

Doch schließlich wurde ihm das Schweigen ein wenig peinlich. Als nun auch der Bärtige begann, seine Augen über den Schreibtisch gleiten zu lassen und vermutlich wieder an die gerade unterbrochene Arbeit dachte, hielt es Werner nicht länger aus und räusperte sich endlich, um mit seiner kleinen Rede zu beginnen:

Werner lamentierte, er fühle sich durch die Ermittlungen der Kripo enorm in die Enge getrieben, er wisse sich nun nicht mehr anders zu helfen und müsse jetzt einfach alles erzählen. Eigentlich habe er ja garkein Motiv gehabt seinen ohnehin sterbenskranken Onkel umzubringen, auch wenn es oft Streit gegeben habe, das Erbe sei ja sicher gewesen. Da die Polizei das aber wohl nicht sehe - Werner bemerkte die Änderungen der Gesichtsfarbe des Bärtigen - , müsse er wohl nun sein Alibi offenbaren. Er sei die gesamte Zeit im Zimmer einer Kommilitonin gewesen, deren Vater aus einer leitenden Position in der Firma des Onkels entfernt werden sollte. Ihm sei es ja sehr unangenehm, dem Mann zu schaden, vermutlich könne die Freundin ihren Vater nach dieser Aussage über ein Alibi nicht mehr decken. Aber wo er schon bei der Sache war, müsse er auch konsequent sein und habe deshalb einen Drohbrief mitgebracht. Wahnsinn, wozu verschuldete Leute fähig wären, hoffentlich passiere ihm nicht ähnliches wie dem geliebten Onkel. Andererseits war der Mann eigentlich kein Autoexperte. Aber Werner behauptete den Bruder seiner Tante gefragt zu haben, wieviel Sachverstand zu einem solchen Anschlag notwendig gewesen sei. Schließlich war der Bruder der Tante Altwagenhändler und Werkstattbesitzer, war also kompetent. Man müsse einfach etwas von Autos verstehen, oder sich in einem Fachbuch kundig machen, es komme also doch jeder in Frage. Apropos der Bruder der Tante: Vermutlich hege man schon einen Verdacht, aber der sei völlig unbegründet. Der Mann sei zwar an der Firma interessiert, wie man sagt auch daher mit der Sekretärin des Onkels liiert, aber der blasse Bruder wäre nun einfach nicht der Typ für sowas. Naja, mehr wisse er nun wirklich nicht.

Der Bärtige hielt seinen hochroten Kopf dicht über den vermeintlich Drohbrief: "keine Entlassungen mehr", sonst geht's Dir wie deinem Onkel. Werner überlegte, ob er den Kriminologen nicht vielleicht doch überfordert habe. Schließlich hatte er ihm mehr oder weniger offensichtlich sich selbst von jedem Verdacht befreit, aber dafür als Entschädigung zwei ganz neue Kandidaten ins Spiel gebracht. Langsam schaute der Bärtige also auf, schaltete sein Tonbandgerät wieder aus und meinte lapidar, er müsse sich bedanken, durch diese etwas verspäteten Offenbarungen ergebe sich eine ganz neue Sachlage. Hierauf warf er einen flüchtigen Blick erst auf die Türe, dann auf Werner und schien jetzt wieder konzentriert in einer Akte zu lesen. Werner wußte diese Geste richtig zu deuten und verabschiedete sich höflichst, obwohl ihn die letzte Unfreundlichkeit des Bärtigen ein wenig kränkte. Er konnte nicht verstehen warum der Kriminologe kein bisschen Dankbarkeit oder Freunde zeigte, schließlich hatte er doch gerade so geschickt bei der Wahrheitsfindung mitgeholfen, daß sich der Bärtige endlich auf die wahren Verbrecher unter Werners Verwandten und Angestellten konzentrieren konnte. Vielleicht glaubte ihm der bärtige Kriminologe garnicht. Werner blieb stehen und mußte sich am Treppengeländer festhalten, sein Atem wurde schwer, so daß ihn langsam das Gefühl beschlich von dieser inneren Last zu Boden gezogen und erstickt zu werden. Von überallher schienen ihn plötzlich mißtrauisch strenge Menschen zu beäugen, besonders stechend waren die Blicke der vorbeieilenden Schutzpolizisten. Werner fühlte sich durchschaut, doch seinen Fluchtinstinkten konnte er wegen dem Gewicht auf seinem Atem nicht mehr folgen. Er dachte daran, mit welcher Leichtigkeit er gelogen hatte und begann sich heftig zu schämen. Werner war dankbar, daß sein Gehirn so gut funktionierte, daß es ihm in solchen Situationen seine Paranoia zu erkennen half. Er versuchte es sich also immer wieder klar zu machen: "Das ist alles nur Einbildung, niemand hat etwas gemerkt, Du hast alles im Griff, das ist nur Einbildung, ein psychischer Ausfall, Du bildest Dir die Blicke der anderen nur ein, keiner will Dir was böses, alle harmlos, warum stehst Du eigentlich so unter Stress, Du hast eben doch garnicht gelogen, alles im Griff, keiner hat was gemerkt?!" Doch erst als er die Polizeidienststelle in gewollt schlenderndem Gang, der ihm nur unter Aufbieten von enormer Selbstdisziplin gelang, hinter sich gelassen hatte, konnte er wieder einigermaßen durchatmen. Werner war erschöpft.

Freitag

Die ganze Nacht hatte er darüber nachgegrübelt ob sein Besuch bei dem bärtigen Kriminologen ein Fehler gewesen sein könnte. Das Verhalten des Bärtigen bereitete ihm keine gute Stimmung, irgendwie fühlte sich Werner durchschaut.

Werner trank gleich zum Frühstück seinen Beruhigungstee und tatsächlich sah die Welt nach der vierten Tasse schon etwas freundlicher aus. Egal, was der Bärtige denken mochte, Werners Aktion dürfte ihm kaum geschadet haben. So zog er sich also nach ausgiebigem Duschen seine Arbeitsklamotten an und schob seine noch teilweise gefüllten Umzugskartons in die Mitte seines Zimmers. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, das sich lange Zeit weigerte zu verschwinden, legte er bedächtig seine Bücher vom Regal wieder in die Kartons zurück. Das Studentenwohnheim schien ihm für einen Firmenchef keine geeignete Residenz, er hätte seinen Umzug schon längst in Angriff nehmen sollen. Doch Vorwürfe konnte er sich wegen seiner Nachlässigkeit nun wirklich nicht machen, schließlich hatte er in der letzten Zeit einigen Stress gehabt. Außerdem erschien es Werner recht günstig, nicht in der Villa gewohnt zu haben, während sämtliche Verwandten noch zu Gast waren. Aber inzwischen war bestimmt auch der letzte Neider abgereist und Werner würde freie Bahn haben. Bevor er sich an das Packen der Klamotten machte, telefonierte er mit der Umzugfirma. Gleich am nächsten Tag sollte ihm ein kleiner Lieferwagen zur Verfügung stehen.

Werners inzwischen gute Laune verschwand schlagartig, als er es wieder einmal heftig an seiner Tür klopfen hörte. Wie erwartet war es Luise. Werners Nachbarin schien völlig aufgelöst, sie rang nach Luft und sah kopfschüttelnd zu ihm auf. Werner fühlte Genugtuung. Endlich konnte er einmal in eine väterliche Trösterrolle schlüpfen. Beruhigend legte er seine Hand auf ihre Schulter und wunderte sich, daß er dies ohne jede Angst oder Hemmung tat, nicht einmal sein Puls war beschleunigt. Nachdem er die Tür hinter Luise geschlossen hatte fing sie endlich stockend an zu erzählen: Der Bärtige Polizist sei bei ihr gewesen und habe Fragen gestellt.

Werners Atem stockte, er fühlte wie sich am ganzen Körper seine Poren öffneten, um kalten Schweiß ausbrechen zu lassen. Der Polizist habe so viel gefragt, sie sei noch ganz benommen. Der Polizist hätte sie über ihren Vater befragt, sie sei dann ganz unsicher geworden, denn was habe denn ihr Vater mit der ganzen Sache zu tun. Der Polizist sei auch recht unfreundlich gewesen, er habe lange nicht gesagt, um was es eigentlich ging. Dann habe der Polizist auch Fragen über Werner gestellt. Sie habe überhaupt nicht gewußt was sie sagen sollte.

Werner versuchte einen klaren Kopf zu behalten. Luise war nun sicher noch nicht in der Lage ihm Auskunft über die Befragung des Bärtigen zu geben. Erst mußte er sie beruhigen. Werner überlegte angestrengt aufgeregt darüber nach, wie er dies anstellen könnte. Doch je schneller seine Gedanken im Kreis durch sein Hirn zuckten desto weniger Konstruktives fiel ihm ein. Ein Beruhigungstee, sie in den Arm nehmen und gut zureden, die gespannte Stimmung überspielen und irgendwas unwichtiges erzählen? Werner fühlte sich wie gelähmt, als er seine Hand zu Luise ausstrecken wollte, bemerkte er einen feuchten Fleck auf dem Kissen, in das sich seine Finger gekrallt hatten, er mußte schlucken und bemerkte einen Frosch in seinem Hals. Werner zwang sich dazu seine immernoch nach Luft ringende Kommilitonin nach dem genauen Verlauf des Gesprächs zu Fragen. Sie sah ihn zunächst völlig verdutzt an, als habe er sich unverzeihlich unverschämt und taktlos verhalten, doch das aufgeregte Japsen hatte aus unerfindlichen Gründen mit einem mal aufgehört. Als auch Luise selbst bemerkte, daß sich zumindest ihr Körper wieder beruhigt hatte, begann sie - wenn auch wirr - zu erzählen: Der Bärtige hatte wohl zunächst nach Werners Alibi gefragt. Werner fühlte einen Tropfen seines Angstscheißes langsam die Schläfe herunterrollen, sein Atem stand still und seine Lungen weigerten sich Luft aufzunehmen bevor er nicht sicher wußte, daß Luise dem Kriminologen auch die richtige Antwort gegeben hatte. Luise atmete tief durch und meinte dann, daß sie es zwar garnicht mehr so genau gewußt habe, aber sie hätten ja einen Vormittag zusammen verbracht, daß müsse auch tatsächlich ein Dienstag gewesen sein, denn sie habe ja noch in das Rama-Seninar besucht. Jedenfalls hatte sie darauf Werners Alibi unumstößlich bestätigt. Werner stöhnte vor Begeisterung auf, sein sonst unterdurchschnittlicher Brustkorb schwoll an und wollte vor Stolz platzen. Alles war nach Plan gelaufen.

Luise schaute verunsichert und entschuldigte sich dann in aller Form dafür, daß sie sich so unsicher gewesen sei: Sie habe nun mal keinen Sinn für genaue Uhrzeiten und das aktuelle Datum.

Werner lächelte gönnerhaft verzeihend und ließ sie in ihrem Bericht fortfahren.

Luise schien jetzt wieder aufgeregter, sie stockte in ihren Ausführungen. Der bärtige hatte auch gefragt, ob sie wisse, wo sich an diesem Tag ihr Vater aufgehalten hatte. Werner kannte die Tränen in ihrem Augen stehen sehen. Sie sah ihn lange an und fragte dann fast schreiend, was ihr Vater mit all dem zu tun haben sollte. Werner erschrak zunächst wegen dieser für seinen Geschmack zu heftigen Gefühlsregungen, legte aber geistesgegenwärtig seine Hand auf ihre Schulter und flüsterte, daß er es nicht wisse. Sicher sei die Frage nur Routinen gewesen und habe sie verunsichern sollen. Luise begann leise zu weinen, während Werner sich köstlich über die Situation zu amüsieren begann. Er hatte nicht gewußt wie menschenverachtend zynisch er sein konnte. Der Gedanke, daß Luise ihm, unwissentlich und sicher auch ungewollt ein falsches Alibi verschafft hatte, zauberte ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen. Da saß er doch tatsächlich eiskalt berechnend auf seinem Bett und tröstete in perfekt gespielter Väterlichkeit die Tochter des Mannes, den er selbst unter Mordverdacht gebracht hatte.

Luise aber lächelte nun auch. Doch Werner täuschte sich, als er meinte, sie lediglich angesteckt zu haben. Unaufgefordert fuhr sie in ihrem Bericht fort. Ihr Vater könne ja garnicht in Schwierigkeiten geraten, schließlich sei er ja noch im Urlaub gewesen. Der Bärtige habe zwar noch nachgehakt, wie sie das so genau wissen könne, wenn sie sich anfangs auch nicht an das Datum ihres gemeinsamen Vormittags mit Werner erinnern konnte. Doch sie hätte ihn wohl überzeugt, als sie erzählt habe, daß sie sicher einen Tag später erfolglos versucht hatte den Vater zuhause anzurufen, um zu erfahren, um was es sich bei einem Brief ihres Vaters an Werner handele, der diesen mit Zähnen und Klauen vor ihr verteidigt hatte.

Werner schluckte. Alles war verloren. Luise hatte versagt. Was sollte er jetzt tun?

Er fühlte, wie sich sein Herz verkrampfte und wie ein Gummiball panisch in seinem schrumpfenden Körper auf und ab zu springen begann. Der Gummiball verursachte heftigste Schmerzen in seiner Magengrube, Werner spürte, wie seine letzten Mahlzeiten durchwühlt wurden. War der Gummiball dann wieder auf Brusthöhe hochgesprungen, schien er wie eine Vakuumpumpe sämtliche Luft aus den Lungen abzusaugen, so daß das Atmen zu einer sinnlosen Qual wurde. Langsam schienen die verrückten Hüpfer des Gummiballs immer höher zu werden. Werner geriet langsam in panische Angst, der Ball könnte ihm im enger und enger werdenden Hals steckenbleiben und dort zerdrückt werden. Jedoch ließ sich das schnelle Pulsieren des Gummiballs, zu dem sein Herz geworden war, nicht durch die Enge der Luftröhre beeinflussen, so daß noch eher die zusammengezogene Haut des Halses mit jedem Pulsschlag zu reißen drohte.

Werner wußte nicht wie lange er auf diese Weise körperlich gelitten hatte. Irgendwann jedenfalls erreichte der inzwischen viel verfluchte Spielball seinen Kopf und Werner fing an ihn aus sich herauszubrüllen. Hinterher wußte er nicht mehr genau, was er Luise alles an den Kopf geworfen hatte, vermutete aber, daß er ihr wohl in kürzesten Worten seine ganze Geschichte vorgeschrieen haben mußte. Naturgemäß war Luise vor seiner Tobsucht geflohen, so daß Werner sich nun langsam wieder zu kontrolliertem Handeln zwingen konnte. Sein Schädel schmerzte halbseitig wie unter rhythmischem Pochen und das Licht schien seine Augen herausbrennen zu wollen. Werner ertastete seine Sonnenbrille, suchte hierauf mit immernoch zusammengekniffenen Liedern nach seinen Zigaretten. Werner war mit seinem neuen Problem derart beschäftigt, daß er zum ersten mal bei seinen Lungenzügen nicht husten mußten. Er zwang sich dazu, möglichst objektiv, mit klarem Kopf darüber nachzudenken, ob es noch eine Möglichkeit gab, sich aus der Affäre zu ziehen. Seine ersten Instinkte hatte ganz klar für eine Flucht gesprochen. Doch erstens war das ein klares Schuldeingeständnis und zweitens hätte er eine Abreise vorbereiten und planen müssen. Natürlich wäre es in so kurzer Zeit nicht möglich gewesen einen angemessenen Geldbetrag aus der Firma zu entnehmen, aber ein Untertauchen im Ausland wäre für ein paar Jahre sicher zu finanzieren gewesen. Werner ärgerte sich darüber, noch nicht einmal ausreichende kleinere Summen beiseite geschafft zu haben. Inzwischen war es selbst dafür zu spät, vermutlich wurde schon jeder seiner Schritte überwacht. Eine Flucht kam also ganz offenkundig nicht in Betracht und etwas anderes, konstruktiveres wollte ihm absolut nicht einfallen. Vermutlich würde Werner einfach darauf bestehen müssen, daß er sich wie auch Luise im Datum geirrt habe.

Wenn auch seine Taktik jetzt noch nicht ausgereift war, er wußte doch, daß es jetzt unbedingt nötig war, den Anwalt einzuschalten. Werner schlug das Branchenbuch auf und suchte nach der Nummer des Mannes, der den Onkel in Strafrechtsangelegenheiten immer erfolgreich verteidigt hatte. Es gab tatsächlich genügend Juristen in der Firma, aber alle hatten sich seit Jahren nur mit Steuerrecht und Produkthaftung beschäftigt, daher wollte sich Werner in dieser Sache lieber so helfen, wie es der Onkel getan hatte. Außerdem war Werner die Ähnlichkeit des Anwalts mit Bismark sehr sympathisch. Er konnte sich sicher sein, daß der Anwalt und Notar des Onkels voll hinter ihm stehen würde. Werner kannte ihn noch gut aus den Zeiten, in denen er der ganze Stolz und die Zukunftshoffnung des Onkels war und sich beim gemeinsamen Cognac angeregt mit den beiden älteren Herrn unterhalten hatte. Gegenüber einem Freund und Alleinerben der Firma eines noch besseren Freundes mußte Bismark einfach loyal sein. Als die Sekretärin Werners Namen hörte, stellte sie sofort zu ihrem Chef durch. Obwohl der wohl gerade in einer Besprechung mit einem Klienten war, sollte Werner in kurzen Worten sein Problem darstellen. Werner erzählte, daß es zwar unglaublich sei, aber tatsächlich gäbe es eine ganze Anzahl von Indizien, die ihn in den Verdacht brächten, seinen Onkel getötet zu haben. Nach einer kleinen Pause schien sich der Anwalt von der Wirkung dieser Botschaft wieder erholt zu haben und meinte, Werner solle sofort vorbeikommen.

Werner telefonierte nach einem Taxi, steckte sich hierauf seinen vierte Zigarette an und wartete.

Werner fand, daß das Taxi viel zu langsam fuhr, traute sich aber nicht, den jungen schnauzbärtigen Fahrer darauf anzusprechen. Irgendwann hatte sie jedenfalls den Stadtverkehr hinter sich und die Fahrt überland zur Kanzlei des Bismark wurde schneller. Inzwischen schaute der schnauzbärtige Fahrer für Werners Geschmack etwas zu oft in den Rückspiegel, doch Werner sollte schnell dahinterkommen, daß es sich dabei nicht um eine persönliche Schwäche des hageren Schnauzbärtigen handelte. Das Taxi wurde jetzt nämlich von einem dunkelblauen BMW überholt, der darauf sein Tempo drastisch verringerte, so daß auch Werners Fahrer Abbremsen mußte. Die Barthaare des dunklen Schnauzers begannen leicht zu beben, seine Gesichtsfarbe wurde etwas roter. Der Schnauzbärtige fluchte, so schnell sei er doch garnicht gefahren, was das schon wieder solle, wenn die ihm jetzt nochmal was anhängen würden, wäre er seine Lizenz los. Werner lächelte über den komischen Wutausbruch des Fahrers, dessen Problem ihm vergleichsweise harmlos erschien. Scherzhaft meinte er, man solle doch einfach gasgeben und den Polizisten davonfahren. Der Fahrer lachte gezwungen und zu Werners Enttäuschung hielt er, als tatsächlich aus dem BMW eine Polizeikelle auf den Fahrbahnrand zuwinkte, an. Die Türen des BMW öffneten sich langsam und nun stockte wieder Werners Atem. Er fühlte wie die Haut seines Rückens innerhalb von Sekunden schweißnaß auf dem ledernen Autositz festzukleben schien und das Blut so heftig durch die Venen schoß, daß ihm der linke Arm stoßweise stechend zu schmerzen begann. Seine Brille war ihm auf den Schoß gefallen und Werners Blick schien immernoch starr, dabei seltsam irr geradeaus gerichtet zu sein, als der bärtige Kriminologe die Beifahrertüre des Taxis öffnete und ihn freundlich aufforderte auszusteigen. Der Taxifahrer war vermutlich zunächst zu verdutzt, dann zu erleichtert um auf seine Bezahlung zu bestehen. Jedenfalls blieb er mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund im Wagen sitzen bis Werner sich mit erhobenen Kopf in langsamen, aber irgendwie feierlichen Schritten zum BMW bewegte.

Werner war wegen Mordes festgenommen worden. Er wunderte sich, warum der Bärtige nicht von Mordverdacht oder Fluchtgefahr sprach, aber hatte weder die Energie darüber genauer nachzudenken noch nachzufragen. Der Bärtige hatte sich auf der Rückbank des BMWs neben ihn gesetzt und schien ihn mit ständigem Mißtrauen zu beobachten, doch Werner nahm sich fest vor, ihm nicht den Gefallen eines aussichtslosen Fluchtversuchs aus Panik zu machen. Werner dachte darüber nach, wie ungesund es war, bei dieser Kälte schweißdurchnäßte Kleidung zu tragen, wunderte sich aber gleichzeitig, wie er jetzt an solche Banalitäten denken konnte. Auf dem Fahrersitz saß der unfähige, dicke Beamte mit Lodenmantel, den Werner ja schon während dessen mißglückten Observationsbemühungen kennengelernt hatte. Freundlich stellte der Bärtige seinen Kollegen vor, Werner sagte nichts. Der Wagen war jetzt schon wieder in den Feierabendverkehr der Stadt eingetaucht, aber die Fahrt erschien Werner diesmal viel zu schnell. Aber wessen Reise in die Untersuchungshaft ging schon langsam genug von statten?

Die Kriminologen fuhren jedoch nicht gleich zur Haftanstalt oder zum Präsidium, wie Werner eigentlich vermutet hatte, sondern hielten zunächst vor dem Studentenwohnheim. Der Bärtige öffnete Werner die Wagentür und forderte ihn auf, doch bitte auszusteigen, um in seiner Begleitung noch einige persönliche Sachen aus dem Zimmer mitzunehmen, die er in der Untersuchungshaft benötigen würde. Werner drehte sich also langsam und gequält aus dem Auto heraus. Die Luft erschien ihm erstaunlich frisch und roch wegen ihrer sanften Bewegung seltsam nach Gelöstheit. Er atmete tiefer und bewußter ein als sonst, in der nächsten Zeit würde er wohl nicht mehr die Möglichkeit dazu haben. Die Straße war fast menschenleer, der Beamte in Lodenmantel hatte den Wagen vor dem Garten der kleinen Burschenschaftsvilla, die neben Werners Wohnheim lag, geparkt. Er überlegte, ob er nach einem Sprung über den angenehm niedrigen Zaun Chancen hatte, zwei Verfolger in dem Garten abzuschütteln. Um seine Lage besser abzuschätzen, schaute Werner zu dem Bärtigen herüber und verzagte im gleichen Moment. Der Kriminologe mußte seinen Blicken gefolgt sein und hatte so wohl auch Werners Gedanken erraten können. Jedenfalls lächelte er jetzt milde und schüttelte langsam mit wohlwollend väterlichem Tadel im Blick seinen Kopf. Werner spürte nie gekannten Hass gegen diesen Mann in sich aufsteigen. Der Bärtige ging nun auf Werner zu und machte eine einladende Armbewegung Richtung Studentenwohnheim. Werner knurrte vor Kroll und seufzte aus Enttäuschung, ging dann mit einem Anflug von Trotz viel zu schnell in die vom Bärtigen gewünschte Richtung.

Werner empfand seine Zelle als nicht so beängstigen, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Die Wände des fast quadratisch zugeschnittenen Raumes waren blütenweiß verputzt, gegenüber der breiten Holztüre stand ein kleiner Tisch mit Stuhl direkt unter dem sparsam vergitterten Fenster, durch das die Sonne auf das einfache, etwas zu schmale Bett links neben dem Tisch schien. An der Wand gegenüber befand sich eine kleines Waschbecken mit Spiegel, davor ein Wasserklosett. Werner war von einem Justizvollzugbeamten hereingeführt worden, dessen riesige Tränensäcke ihn sehr unausgeschlafen und damit fast sympathisch gemütlich wirken ließen. Der müde Mann hielt Werner an, während der vermutlich verhältnismäßig kurzen Zeit, in der er in Untersuchungshaft sein würde, keine Beschriftungen oder Ähnliches an den Wänden anzubringen und informierte noch über die Termine der Mahlzeiten und des Hofgangs. Werner zwang sich zu einem sarkastischem Lächeln und bedankte sich bei dem müden Mann in blauer, schlecht sitzender Uniform. Als der Beamte wieder gegangen war, begann Werner sich häuslich einzurichten, stellte also Zahnputzbecher, Rasierapparat und Seifenschale auf das Waschbecken, legte seine Kugelschreiber und Papier auf den kleinen Tisch. Hektisch kramte er seine Zigaretten heraus und atmet mit echter Erleichterung auf, als er nach endlich auch noch seine Streichhölzer fand. Erstmals machte Werner wirklich tiefe Lungenzüge, seine tragische aber auch irgendwie komische Situation zwang ihn zu einem bitteren lächeln.

Nach etwa einer Stunde tauchte der schläfrige Justizvollzugsbeamte wieder auf und führte ihn in ein Vernehmungszimmer. Der Bärtige war nicht weiter erstaunt, als Werner zunächst nach seinen Anwalt verlangte, schob Werner das Telefon herüber und ließ zwei Kaffee hereinbringen, um das Warten auf den Anwalt zu verkürzen.

Werner fühlte zwar noch immer diese stechende Übelkeit im Magen und hatte nach wie vor Probleme seinen Brechreiz zu unterdrücken, doch bei dem gemeinsamen, wortlosen Kaffeetrinken mischte sich jetzt auch ein gewisser Heldenstolz auf sein geschäftsmännisches Verhalten unter Werners Gefühlschaos.

Schon nach einer 3/4 Stunde kam Werners Anwalt schwitzend in das Büro gestürmt, versuchte ihm aufmunternd zuzunicken und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Der Bärtige räusperte sich kurz und erklärte dann, um die Sache möglicherweise etwas zu beschleunigen, wolle er die Anwesenden schon vor einer Akteneinsicht über seine Ermittlungen informieren. Hieraus könne sich eventuell Werners Bereitschaft zu einer baldigen Aussage ergeben. Der Anwalt knurrte kaum hörbar mit lauem Widerwillen und ließ den Bärtigen fortfahren ohne auf die fragenden Blicke Werners zu antworten.

Werners Verhaftung wegen dringendem Mordverdacht stützte sich auf eine Reihe von Indizien, denen man nach Meinung des Bärtigen teilweise sogar Beweiskraft zumessen könnte.

Werner bemerkte, daß sein Handschweiß feuchte Stellen auf dem Schreibtisch hinterließ und konzentrierte sich nun darauf diese möglichst unauffällig mit dem Hemdärmel wegzuwischen. Das Hemd war unter seinen Achseln schon völlig durchnäßt. Werners Blicke suchten gehetzt nach seinem Sakko, bis er sich endlich erinnerte, es garnicht abgelegt zu haben. Ein wenig beruhigter stellte er also fest, daß seine Aufregung wenigstens halbwegs verborgen bleiben könnte. Werner mußte an seine fast schon üblichen Schweißausbrüche im Gesicht denken und kramte nach einem Taschentuch, um es zu gegebener Zeit griffbereit zu haben. Schon jetzt fühlte er wie sich die Poren der Haut seiner Stirn zu weiten schienen, was einen bevorstehenden Schweißausbruch anzeigte. Krampfhaft versuchte er seine Gedanke wieder vom Schweiß wegzulenken, weil ihn diese Vorstellungen nur umso mehr zum Schwitzen bringen würden.

Der Vortrag des Bärtige begann nun konkreter zu werden:

Zunächst waren erstaunlich viele Textilfasern in der Garage des Unglücksautos gefunden worden. Der Gutachter der Spurensicherung hatte hierzu ausgesagt, es sei sehr wahrscheinlich, daß die Fasern absichtlich plaziert worden wären. Die Fasern wurden nämlich in kleinen Büscheln aufgefunden, die nur durch Abzupfen von dem entsprechenden Kleidungsstück entstehen konnten.

Eine Analyse ergab darauf, daß die Textilfasern zu einer Hose der Tante Werners gehörten.

Andererseits seien am Unfallwagen selbst Textilspuren anderer Herkunft gefunden worden. Ob diese von einem Kleidungsstück Werners stammen wurde im Moment noch untersucht.

Ohne den Grund dafür herauszufinden dachte Werner immernoch gegen seinen Willen intensivst über Schweiß nach. Die beiden Worte in seinem Kopf "nicht schwitzen!" hatten inzwischen begonnen völlig unkontrolliert durch die Windungen des geschundenen Hirns zu blitzen und nahmen dabei unbefugt Werners gesamtes geistiges Potential in Anspruch.

Der Bärtige fuhr mit seinen Ausführungen unerbittlich fort: Die Frage, wer nun tatsächlich versucht hatte, einen Verdacht auf die alte Dame zu lenken, habe sich mehr oder weniger von selbst beantwortet, als Werner dabei beobachtet worden war, wie er sich an der Gärtnerhose zu schaffen machte. In der Tasche dieser Hose wurde hierauf einen Zange gefunden, mit der nach einem Gutachten der Spurensicherung der Bremsschlauch des Verunglückten Wagens durchtrennt worden war. Obwohl man versucht habe, Fingerabdrücke auf der Zange wegzuwischen, hatte man hier Spuren identifizieren können, die mit denen auf Werners Essbesteck vom gemeinsamen Kaffee nach der Beerdigung übereinstimmten.

Obwohl Werner durch das penetrante Brennen in seinen Augen bemerkt hatte, daß ihm schon recht viele Tropfen seines säuerlichen Angstschweißes die Stirn heruntergerollt sein mußten, konnte er die inzwischen zwecklose Gebetsmühle in seinem Kopf nicht stoppen. Unerbittlich hämmerte sein "nicht schwitzen" weiter auf Werners Schädel ein, während der Bärtige immer zufriedener zu plappern begann:

Während der hierauf eingeleiteten ständigen Observierung Werners, war er beim Besuch fast sämtlicher Buchhandlungen in der Stadt beobachtet worden. Die Befragung der Buchhändler habe ergeben, daß Werner sich jeweils nach dem Verkauf eines Buches über Autotechnik an seine Tante erkundigt hatte. Natürlich sei es nicht einfach, sich dieses Verhalten sinnvoll zu erklären. Doch müsse es wohl als ein Versuch Werners interpretiert werden, herauszufinden, ob er durch die Aussage des Buchhändlers belaßtet werden könnte. Dies sei ein Verhalten, daß wiederum fast typisch für Straftäter sei, die erst nach ihrer Tat einen Fehler in der Planung des Verbrechens bemerken.

In jedem Fall sei es sicher, daß sich das fragliche Buch in Werners Besitz befand. Nach der glaubhaften Aussage der Tante, müsse Werner sich das Buch von seinem Onkel als ein kleines Geburtstagsgeschenk gewünscht haben, so daß dieser es ihm wohl übergeben hatte.

Werner spürte, wie seine Atemfrequenz rasend schnell immer weiter beschleunigt wurde, ohne daß er dabei endlich genügend Luft bekam. Während Werner weiterhin verbissen versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, drohte die Gewissheit, gleich ersticken zu müssen, langsam zu einer heftigen Panik zu werden.

Ohne den körperlich und psychisch kritischen Zustand Werners zur Kenntnis zu nehmen redete der Bärtige in seiner diabolischen Seelenruhe weiter:

Nach Werners Verhaftung war eine Hausdurchsuchung in seinem Wohnheimzimmer vorgenommen worden. Hierbei wurde ein Brandfleck gefunden, der zum Beispiel durch die Verbrennung eines Buches, jedenfalls von Papier stammen könnte. Eine Untersuchung der Aschereste werde später Auskunft darüber geben, ob die Verbrennungsprodukte aus dem fraglichen Buch über Automobiltechnik stammen könnten. Durch die sehr unterschiedliche chemische Zusammensetzung der Oberflächenbeschichtung und Farbstoffe von Bucheinbänden sei hier eine relativ sichere Differenzierung möglich.

Werner verwendete inzwischen seine gesamte Konzentration auf die Unterdrückung des Zitterns seiner Hände, so daß es ihm nach einer Weile doch noch gelang seinen obersten Hemdknopf zu öffnen. Endlich spürte er wieder etwas Sauerstoff in seinen kollabierenden Lungen und konnte so den gerade abgerissenen Hemdknopf zusammen mit der wieder heftig zitternden Hand in seiner Sakkotasche recht unauffällig verschwinden lassen.

Der bärtige Kriminologe konnte jetzt wohl sein selbstgefälliges Grinsen nicht mehr unterdrücken. Stolz präsentierte er seine Ermittlungserfolge:

Ein weiteres Vorkommnis, das den Verdacht gegen Werner bestätigte, war die vermutliche Fälschung eines Alibis gewesen. Die Kommilitonin Werners habe zunächst genau wie er ausgesagt, sie sei zur fraglichen Zeit mit ihm zusammen gesessen und habe angeregte Gespräche geführt. Eine genauere Überprüfung hatte dann aber ergeben, daß sie sich im Datum geirrt hatte. Durch den Fund von Kassenzetteln, einem Blick auf die Anwesenheitsliste einer ihrer Vorlesungen und nach Befragung von Luises Freunden konnte aber ihr tatsächlicher Tagesablauf rekonstruiert werden, so daß sich das Alibi nicht bestätigen ließ. Während bei der Kommilitonin ein simpler Irrtum im Datum noch nachvollziehbar sei, könne man hiervon bei Werner nicht ausgehen. Als nächster Angehöriger, für den der Tod ein - in welcher Form auch immer - einschneidendes Erlebnis gewesen sein dürfte, mußte er sich das Todesdatum in Einzelheiten im Gedächtnis haben. Werner habe sich vermutlich das schlechte Zeitgedächtnis seiner Zimmernachbarin zur Fälschung eines Alibis genutzt.

Der Kopf Werners schmerzte in schneller werdendem, rhythmischem Pochen, als wollte der Schädel in absehbarer Zeit explodieren.

Der Bärtige - von seinem Ausführungen wohl selbst zu geblendet, lächelte nun etwas sanfter, als er nun sein scheinbar endloses Referat weiter fortsetzte:

Außerdem habe er in der ersten Befragung ausgesagt, allein gewesen zu sein. Während dieser Befragung sei keine Zeit für taktische Überlegungen gewesen, so daß man ihr evtl. mehr Wahrheitsgehalt zumessen könne. Im Übrigen hatte der Vater Luises ein recht wasserdichtes Alibi. Werners Behauptung, er habe durch seine erste Äußerung den Verdacht vom Buchhalter ablenken wollen, sei somit wahrscheinlich wie die gesamte zweite Aussage falsch.

Auch die Bemerkungen Werners direkt nach der Beerdigungen, er habe von der tödlichen Krebskrankheit seines Onkels gewußt, seien vermutlich Täuschungsversuche gewesen. Schließlich habe der Arzt des Onkels ausgesagt, der Onkel habe ihm erst vor kurzem gestanden, noch keinem aus Familie und Freundeskreis über seinen Zustand aufgeklärt zu haben.

In Werners Kopf war inzwischen wohl die maximale Schmerzintensität erreicht, jedenfalls schien der Kopfschmerz nicht mehr heftiger werden zu wollen, was Werner wiederum zwang über irgend etwas anderes nachzudenken. So wartete er darauf, daß ein beliebiges anderes Körperteil seinen treuen Dienst aufkündigen wollte.

Werner spürte eine gewisse quälende Ratlosigkeit, als bei ihm neue unkontrollierte Körperreaktionen auf die Ausführungen des Bärtigen ausblieben. Auf nichts anderes als seine überraschenden Schmerzen und Erstickungsanfälle hatte er sich bisher so intensiv konzentrieren können, daß es ihn von einem tatsächlichen Kollaps abgehalten hätte. Werner begann tiefes Verständnis für Amokläufer und Selbstmörder aufzubringen. Es mußte sich dabei jeweils um Menschen gehandelt haben, die genau wie er jetzt selbst extremen Stress nicht einmal mehr körperlich kompensieren konnten.

Werner versuchte diesen Gedanken durch ein angedeutetes Kopfschütteln zu vertreiben, wie es Hunde mit den Wassertröpfchen in ihrem Fell tun. Der Wunsch aufzuspringen um irgend jemanden zu erschlagen hätte auch tatsätzlich an Intensität verloren, aber der Bärtige hörte einfach nicht auf verbal auf Werners Schädel einzuprügeln:

Durch eine psychologische Analyse der Tonbandaufnahme Werners zweiter Aussage bestätige es sich zusätzlich, daß er auch hier relativ geschickt versucht habe, andere Personen mit Mordmotiv in Verdacht zu bringen.

Werner suchte mit hektischen Blicken nach irgendeinem als Waffe geeigneten Gegenstand. Er nahm inzwischen keinerlei Emotion oder Aufregung mehr in sich wahr. Alle natürlichen Gemütsbewegungen schienen erstarrt zu sein.

Der Bärtige schaute zum ersten Male auf, um den Zustand seines Opfers zu überprüfen. Werner wirkte auf ihn wohl - wenn auch ein wenig apathisch - noch zu gefaßt und so bemühte er sich weiter:

In die selbe Richtung wie die Analyse der Tonbandaufnahme weiße auch der seltsame Drohbrief den Werner den Ermittlungsbehörden übergeben habe. Natürlich sei es möglich, daß der Brief von einem Mitarbeiter aus der Gießerei stamme. Die ausgeschnittenen Buchstaben tragen jedoch auf der Rückseite Buchstabenreste, die es nach einer kleinen Fleißarbeit erlauben, das genaue Ausgabedatum der benutzen Zeitung exakt zu bestimmen. Es handele sich um die FAZ vom 13.7 und das sei gerade die einzige Ausgabe dieser Zeitung, die im Hausmüll der Tante nicht zu finden gewesen war. Für den Drohbrief wurde also aller Wahrscheinlichkeit nach genau diese Zeitung aus der Villa verwendet worden. Damit fiele hier wieder der Hauptverdacht auf Werner. Eine solche Vermutung müsse aber noch zu die genaue Zuordnung der im Klebemittel vorhandenen Wimper zu der verdächtigten Person bestätigt werden.

Inzwischen war auch Werners Schmerzempfinden so gut wie ausgeschaltet. Das Hämmern im Schädel war verschwunden, die Saltos seines Mageninhaltes verursachten keine Übelkeit mehr, seine Hände waren ruhig und die Lungen arbeiteten wie perfekte Teile einer Maschine. Nur der übermäßige Speichelfluß und das heftige Schwitzen hatte noch nicht aufgehört, was aber nicht besonders störte.

Werners Hirn suchte verzweifelt nach einer Erklärung für seinen beängstigenden Zustand, die Augen dagegen immernoch nach einer Flasche, einem scharfen Brieföffner oder ähnlichem.

Der Bärtige seinerseits trumpfte noch immer auf:

Desweiteren hatte die Befragung von Verwandten und Freunden des Onkels ergeben, daß er gegenüber mehreren Personen behauptet haben mußte, sein Neffe wolle ihn umbringen. Die Beziehung zwischen ihm und dem Jungen sei bisher lediglich gespannt gewesen, aber seit dieser immer aggressiver mit Tötung drohte, habe er Angst vor seinem Neffen. Werner habe sich aber auch in völlig nüchternen Zustand irgendwie verdächtig verhalte. Er habe böse, funkelnd blitzende Blinzelblicke herüber zu seinem Onkel geworfen. Dem Onkel selbst gegenüber sei er schleimig, aalglatt aber auch distanziert geblieben, obwohl doch eigentlich jeder Mann eine brüderliche, Freundschaftliche Beziehung zu dem Alten hätte aufbauen können.

Dies schienen so in etwa die Gründe zu sein, weswegen er in Gefahr zu sein glaubte. Den Rest zur Unerschütterlichkeit dieser Überzeugung hatte wohl die feinsinnige Gefahrwitterung des Geschäftsmanns beigetragen.

Werners wirrer Blick war inzwischen an dem Kugelschreiber des Bärtigen heften geblieben. Plazierte man diesen zwischen Mittel- und Ringfinger in die Faust, konnte man damit ideal Augen und Kehlkopf des Gegners für immer außer Gefecht ziehen. Werner überlegte ob er zuerst auf ein Auge oder den Hals des Bärtigen einstechen würde.

Der Kriminologe sprach in ahnungsloser Sicherheit:

Dann müsse man auch in Betracht ziehen, daß ein ausreichendes Motiv für einen Mord bestanden habe. Schließlich hatte Werner vor einer Enterbung gestanden und was könne für einen wissenschaftsverliebten, verwöhnten Dauerstudent gräßlicher sein?

Und zu guter Letzt berichtete der Bärtige noch, daß es keine andere Person mit Mordmotiv gäbe, die kein überprüftes, sicheres Alibi hätte. Nur Werner habe Zeit für die Manipulation am Wagen des Alten gehabt.

Werner war aufgestanden und hielt nun nach einem bedächtigen Griff den Kugelschreiber in der linken Hand, während sich die rechte in der Tasche schon zu einer Faust geballt hatte. Während er langsam beide Hände zusammenführte, um das Schreibgerät blitzschnell zu einer gefährlichen Waffe umfunktionieren zu können, schaute er zum Bärtigen hinüber, damit er sich letzte Klarheit darüber verschaffen konnte, wo er den Bärtigen zuerst treffen würde.

Der Bärtige schaute Werner mit einer unverhohlenen Rüge im Blick an und schien absolut kein Verständnis für dessen Verhalten zu haben.

Erst jetzt bemerkte Werner, daß der Kriminologe recht zu haben schien und verwarf seinen lächerlichen Mordplan, zu dessen Ausführung er ja ohne hin nicht genügend Mumm gehabt hätte. Schon war er wieder dabei fieberhaft nach einer Rettung aus seiner peinlichen Pose zu suchen und legte schließlich den Kugelschreiber einfach wieder zurück. Werner setzte sich schnell wieder hin, grinste verkrampft schuldbewußt wie ein Schuljunge, der beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt worden war, und entschuldigte sich beim Bärtigen für seinen Irrtum: Er habe einen ähnlichen Kuli, aber das sei ja offensichtlich garnicht sein eigener, denn hier fehlten ja die charakteristischen Kauspuren.

Samstag

Natürlich hatte Werner nicht schlafen können, sondern seine Zeit lediglich mit der sinnlos lauten Beschimpfung der Tante verbracht. Nun schien es also tatsächlich soweit zu sein. Die alte Dame hatte auf der ganzen Linie gesiegt und konnte nicht nur das Geld aus der Lebensversicherung, sondern das gesamte Erbe einstreichen, während er wohl noch mehrere Jahre hinter Gittern verbringen würde.

Werner malte sich immer wieder das zufriedene Grinsen der Alten aus und kultivierte auf diese Weise genügend Haßgefühle, um seine Resignation nicht Oberhand gewinnen zu lassen.

Trotzdem wollte die schmerzende Übelkeit im Magen und der ständige Brechreiz nicht verschwinden, so daß Werner irgendwann am späten Vormittag doch noch in Erwägung zog, sich endlich konstruktiv objektive Gedanken über seine Lage zu machen. Vielleicht würden sich so Perspektiven ergeben, die die Situation wenn schon nicht zu meistern dann aber wenigstens zu überleben helfen könnten.

Vorher begann er jedoch seine Zelle in Ordnung zu bringen. Er drehte das schmale Stahlbett wieder auf und rückte es zurück an seinen Platz. Bedächtig klopfte er aus der Bettwäsche den Staub des Zellenbodens heraus und legte sie auf die Matratze. Nach einigen Anstrengungen gelang es ihm schließlich das geknickte Stuhlbein aus Eisenrohr wieder halbwegs gerade zu biegen, so daß der Stuhl zwar noch wackelte, aber immerhin noch sein Gewicht tragen konnte. Der Tisch schien alles in allem noch ganz in Ordnung zu sein, auch wenn sämtliche Beine jetzt nicht mehr allzu fest unter der teilweise gebrochenen Tischplatte saßen. Vorsicht stellte Werner ihn an seinen alten Platz. Zum Glück war auch noch der Spiegel unversehrt, so daß Werner jetzt damit begann seine in der Zelle verstreuten Klamotten zu sortieren und gefaltet auf den Tisch zu legen.

Mit relativer Zufriedenheit betrachtet Werner nun das Ergebnis seiner Arbeit, steckte sich eine seiner letzten Zigaretten an und war dankbar, daß wenigstens Klosettür und Waschbecken stabil genug konstruiert und installiert worden waren, um einem randalierenden Inhaftierten zu trotzen.

Das einzige, was jetzt tatsächlich noch beängstigend lädiert wirkte, war Werners Stirn, auf der links oben eine große Platzwunde dem Betrachter rot entgegenleuchtete. Werner schüttelte den Kopf, als er daran zurückdachte, wie er gestern Nacht in einem Anfall von wütendem Hass auf die alte Dame und sich selbst wieder und wieder seine Stirn gegen die Kloschüssel schlug. Die Einsicht, daß weder Selbstbestrafung noch -zerstörung eine Problemlösung bedeutete, kam jetzt aber leider zu spät. Wenn man schon alles verloren zu haben glaubt und die verbleibende Energie sinnloser Weise gegen sich selbst richtet, sollte man dabei wenigstens konsequent sein. Werner schwor sich Affekthandlungen ab sofort zu vermeiden. Ein gut geplanter und gelungener Suizid bei völliger Geistesgegenwart erschien ihm da weitaus kultivierter und stilvoller.

Am frühen Nachmittag wurde Werner von seinem Anwalt besucht, der sich gestern nach den Ausführungen des Bärtigen wohl kurz vor einem Herzinfarkt stehend von Werner eine gewisse Bedenkzeit bezüglich des weiteren Vorgehens ausgebeten hatte. Immernoch mit hochrotem Kopf saß er jetzt jedenfalls vor Werner und schien beim Versuch, die rechten Worte zu finden, zwar sichtlich bemüht, aber erfolglos zu sein: Die vom Bärtigen vorgelegten Beweise seien doch erstaunlich fundiert und stichhaltig, so daß Werner eigentlich garnichts anderes übrigbliebe, als ein umfassendes Geständnis abzulegen. Vielleicht sei es ja sogar möglich, die Gutachter von einer psychischen Zwangslage zu überzeugen, aus der heraus die Tat begangen worden war. Bei guter Führung könne man so eine relativ kurze Haftstrafe von nur vier bis fünf Jahren erringen. In jedem Falle müsse Werner aber verstehen, daß er als ein alter Freund seines Onkels nicht dazu in der Lage sei, dessen mutmaßlichen Mörder angemessen zu verteidigen. Er werde dementsprechend sein Mandat niederlegen, wünsche Werner aber viel Glück.

Werner wurde schwindlig, so daß er seine Brille nicht mehr an ihrer Talfahrt auf dem Nasenrücken hinderte.

Als der Testamentsvollstrecker des Onkels habe er jetzt jedenfalls noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Aushändigung eines Briefes an Werner, den er nur im Falle seiner Verhaftung erhalten sollte.

Der Verteidiger schien den Blickkontakt zu Werner bewußt zu meiden und kramte aus seiner Aktentasche den ominösen Brief heraus, um ihn im Aufstehen vor Werner auf den Tisch gleiten zu lassen.

Von dem erneuten Schock gelähmt flüsterte Werner etwas von seinem Verständnis für die Mandatsniederlegung und Dank, war aber in Wirklichkeit ganz und garnicht verständnisvoll oder gar dankbar.

Der Brief war vorher von der Justizvollzugbehörde geöffnet worden und dementsprechend hatte sich der Bärtige eine beglaubigte Kopie als weiteres Beweisstück sichern können.

Zurück in seiner Zelle riß Werner mit seinen zitternden Händen den Umschlag auf und begann hektisch zu lesen:

Lieber Werner,

natürlich möchte ich Dich während Deiner Haft nicht noch zusätzlich schockieren. Trotzdem lasse ich mir nicht die Freude nehmen, Dir hiermit mitzuteilen, wer nun der eigentliche Sieger in unserer Auseinandersetzung geworden ist:

Wie Du inzwischen vielleicht schon erfahren hast, bin ich an Darmkrebs erkrankt. Mir bleibt daher eine Lebenserwartung von noch maximal einem Jahr. Die immer stärkeren Schmerzen hindern mich mittlerweile sogar am effektiven Arbeiten, so daß mir mein Weiterleben ohnehin nicht mehr besonders viel wert ist.

Du wirst also nachvollziehen können, welches Vergnügen es mir macht, Dich bei Deinen Mordvorbereitungen zu beobachten. Mir ist vollkommen klar, was Deine nächtlichen Untersuchungen an meinem Auto bedeuten. Und natürlich weiß ich auch, warum Du Dich plötzlich für Bücher über Automechanik interessierst. Übrigens habe ich darüber gestaunt, daß Du Dir die Bücher gerade von mir schenken lassen möchtest. So viel Kaltschnäuzigkeit hätte ich Dir eigentlich nicht zugetraut. Wenigstens in dieser Beziehung ähnelst Du Deinem Vater.

Außerdem hatte ich schon befürchtet, daß Du nicht genug Mut für einen Mord aufbringst. Aber wie es aussieht, hast Du mich zumindest in dieser Beziehung nicht enttäuscht. Wenn Du Dich nicht hättest erwischen lassen, wäre ich zum ersten Mal ein wenig stolz auf Dich und würde Dir deswegen sogar die Firma Deines Vaters überlassen. Leider mußtest Du wieder Deine Unfähigkeit unter Beweis stellen und trägst jetzt deren Konsequenzen.

Werner, Du bleibst ein Verlierer.

Werners Kopf war plötzlich klar wie nie zuvor. Endlich kannte er den tatsächlichen Mörder. Die ganze Sache war ein perfekter Geniestreich. Der Onkel hatte ohnehin nicht weiterleben wollen. Ein simpler Selbstmord war für den geizigen Egomanen unter keinen Umständen in Frage gekommen. Schließlich hätte das nach Kapitulation ausgesehen und außerdem wäre die beträchtliche Summe aus seiner Lebensversicherung nicht an die Tante ausgezahlt worden. So fälschte er also erfolgreich einige Indizien, die Werner in Verdacht und schließlich ins Gefängnis bringen sollten und vermutlich mit einem hämischen Grinsen auf dem fetten Gesicht gegen einen Brückenpfeiler. Werner war beeindruckt:

Der Onkel hatte darauf geachtet, daß jeder außer Werner ein Alibi besaß,

lange vor seinem Suizid hatte er erzählt, sich von seinem Neffen bedroht zu fühlen,

der Onkel hatte unter dem Vorwand, es handele sich um ein Geschenk, Bücher über Kfzmechanik besorgen lassen,

zu gegebener Zeit hatte der Alte den Streit mit Werner eskalieren lassen und ihn das Haus verboten, nicht ohne vorher ein Zimmer im Studentenwohnheim zu besorgen und eine Beobachterin als spätere Zeugin für Werners abnormen Zustand im Nachbarzimmer zu plazieren

geschickt hatte er die verräterischen Bücher in Werners Umzugskartons geschmuggelt

und Textilrest der Kleidung seines Neffen unten am selbst sabotierten Wagen angebracht.

Auch die seltsame Schlußklausel im Testament war jetzt einfach zu erklären: Wie von dem Alten geplant, konnte Werner das Erbe nicht antreten, da dies ja juristisch gesehen ein Vorteil aus dem ihm zulaßt gelegten Verbrechen wäre. Sobald er rechtskräftig für den angeblichen Mord verurteilt war, würde gemäß der Testamentsklausel die Tante sein Erbe einstreichen.

Werner war beeindruckt von dem perfekten Netz der Indizien und Beweise, mit dem ihn sein Onkel umwickelt hatte. Anerkennend schüttelt er den Kopf, hob resignierend die Schultern und setzte sich aufs Bett um seine letzte Zigarette zu rauchen.

Wie immer hatte der Alte recht behalten:

Werner war ein Verlierer.